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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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wird.
    »Dann schau du nach«, sagt er. »Ich warte hier auf der Straße, und du sagst es mir vom Fenster aus!«
    »Ich denke nicht daran!«, sagt sie.
    »Bitte!«, sagt er. »Mir genügt eine Adresse, ein Name, was auch immer!« Abgesehen von manchen Träumen, scheint ihm, hat er noch nie jemanden so beharrlich und so unterwürfig um etwas gebeten; aber welchen Eindruck er auf Außenstehende machen könnte, ist ihm völlig egal, in seinem Zustand würde er sie auch auf Knien anflehen.
    »Nei-ein!«, sagt die Frau: hart, verschlossen, da ist nichts zu machen.
    »Aber ich habe nichts in der Hand, um sie zu finden«, sagt er wie ein Bettler. »Gar nichts.«
    »Tut mir leid«, sagt die Frau. »Ich gehe schlafen, morgen habe ich meinen Umschulungskurs. Gute Nacht.«
    »Warte«, sagt er, obwohl längst klar ist, dass es nichts nützt. Einen Moment lang überlegt er, ihr den Schlüssel aus der Hand zu reißen, sie beiseitezuschieben und die Treppe hinaufzulaufen, in die Wohnung zu gehen, die er noch nie gesehen hat, Clares Zimmer hektisch nach irgendeinem Anhaltspunkt zu durchsuchen und wegzurennen, bevor die Polizei eintrifft. Stattdessen steht er auf dem Gehsteig und schaut zu, wie die Frau die eiserne Haustüre mit geriffeltem Glas aufsperrt, hineinschlüpft und sie klickend wieder schließt, ohne ihm den kleinsten Spalt zu lassen. Er schaut zu, wie sich ihre durch die Scheiben unscharfe Gestalt im Inneren entfernt und das Licht im Eingang verlöscht. Dann rennt er wie ein Verrückter zu seinem alten Jaguar am Ende der Straße, fährt ruckartig los und erinnert sich erst, als er schon fast an der Ecke ist, dass er die Scheinwerfer einschalten muss.
     
    Die Wi-Fi-Verbindung am Flughafen Linate funktioniert nicht
     
    Die Wi-Fi-Verbindung am Flughafen Linate funktioniert nicht, aber zum Glück gelangt sie mit ihrem Internet-Stick ins Netz und kann auf der Webseite der klm ein Ticket für den Flug nach Vancouver um sechs Uhr fünfzig buchen, mit Zwischenlandung in Amsterdam und Calgary. Es kostet 697 Euro; doch wenn sie sich nicht verrechnet hat, müsste auf ihrem Bankkonto noch etwas übrig sein, jedenfalls hat sie weder Zeit noch Lust, wer weiß wie lange zu warten, um einen besseren Tarif zu ergattern. Anschließend schreibt sie eine E-Mail an ihre Schwester Paula, erzählt ihr, dass ihr Beziehungsleben gerade in die Brüche gegangen sei, doch solle Paula sich keine Sorgen machen, wenn alles gut gehe, werde sie morgen in Victoria ankommen und ihr alles persönlich erzählen. Sie weiß nicht einmal genau, warum sie ausgerechnet zu ihr fährt und nicht zu Anne oder Skippy nach Rochester oder zu Julia nach New York; vielleicht einfach, weil sie diejenige ihrer Schwestern ist, die am weitesten entfernt wohnt.
    Um drei Uhr nachts liegt der Flughafen in einem Dämmerzustand, der ihrem Gemütszustand entspricht: Check-in-Schalter geschlossen, Cafés geschlossen, Monitore, die immer dieselben Nummern und Namen von Flügen und Zielorten anzeigen. In einer Ecke blinkt das kleine grüne Lämpchen eines Geldautomaten; Transit-Passagiere, die sich kein Hotel in der Stadt suchen konnten oder wollten, schlafen auf den Plastiksitzen oder stehen wie Zombies in den Durchgangsbereichen herum; die automatischen Glastüren sind geschlossen. Zwei uniformierte Carabinieri gehen langsam mit wachsamem Blick vorbei; eine Frau, gekleidet wie eine Bajadere, sitzt mit weit ausgestreckten Beinen da, ihr Mann, mit Bart und Turban, hält ein kleines Kind im Arm, das immer wieder weint. In einem Winkel versucht ein Typ aus Nordafrika von einem öffentlichen Apparat aus zu telefonieren, aber die Verbindung bricht dauernd ab; an einer Säule lehnt ein junger Mann mit Lockenmähne, vielleicht Amerikaner, und die Musik, die aus seinen Kopfhörern dringt, hört man meterweit im Umkreis in kleinen synkopierten Frequenzen. Die Klimaanlage ist falsch eingestellt; die Neonlampen an der Decke zischen und flimmern.
    Sie fröstelt, hat aber keine Lust, den Koffer zu öffnen, um sich etwas Warmes zum Anziehen herauszusuchen. Es ist, als fände sie eine Art bitteren Gefallen daran, dem geistigen Unbehagen, das sie erfasst hat, ein körperliches Unbehagen hinzuzufügen. Sie hat das Gefühl eines Totalschadens, der nichts ausspart. Nur wenige Male im Leben ist es ihr passiert, zwischen dem, was war, und dem, was nicht mehr ist, so schwindelerregend ins Leere zu stürzen: vielleicht, als ihr Vater gestorben ist, vielleicht, als sie sich von Alberto getrennt hat. Aber

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