Sie und Er
erscheinen auf der Ostseite der Straße ein Schatten und gleich darauf eine echte sich nähernde weibliche Gestalt. Er spurtet los, obwohl er sehr bald merkt, dass es nicht Clare ist, weil sie weder ihren Gang noch ihr zauberhaftes Leuchten hat, doch vielleicht könnte sie sich durch irgendein Wunder noch in sie verwandeln, denkt er, während er auf sie zustürzt. Vor Schwung rennt er sie beinahe um, und es ist nicht sie, wirklich nicht: Es ist die Frau, die vorhin den orangefarbenen Koffer dabeihatte und mit Stefano vor der Haustür diskutierte.
Jetzt hat sie keinen Koffer mehr, dafür aber einen extrem erschrockenen Gesichtsausdruck; mit einem halblauten Schrei drückt sie sich an die Wand.
Vor Enttäuschung wie vor den Kopf geschlagen, bleibt er abrupt stehen und tastet mit dem Blick ihre Gesichtszüge und Proportionen ab, die so unendlich anders sind als die von Clare. Er hebt die Hände, sucht nach Wörtern, um die Sache zu erklären, findet aber keine, es ist, als wären ihm in den letzten Stunden alle Wörter abhandengekommen.
»Mmbgrrrrrr!«, macht die Frau, während sie vorsichtig ihren Weg fortsetzt und das Handy schwenkt wie eine kleine Verteidigungswaffe.
Er geht seitlich neben ihr her; ganz durcheinander, ohne Strategie.
»Pass auf, ich rufe die Polizei!«, sagt sie: verschlossenes Gesicht, verschlossener Blick.
»Ich wollte dich bloß nach Clare fragen«, sagt er schließlich.
Die Frau bleibt stehen: »Was, du auch? Was habt ihr bloß alle heute Nacht? Ist das die Hitze?«
Er macht eine ungezielte Handbewegung ins Leere.
Mit einem Rest Angst, gemischt mit Wut, beobachtet ihn die Frau im Licht einer Laterne. Dann lockern sich ihre Gesichtsmuskeln allmählich: »Bist du nicht Daniel Deserti?«
Er nickt.
»Warst du der mit dem Jaguar Cabrio vor unserem Haus vor ein paar Tagen?«, fragt sie.
Er nickt erneut, ohne zu begreifen, ob das seine Lage irgendwie verbessert oder verschlechtert.
»Ich dachte es mir, aber von oben war ich mir nicht sicher«, sagt die Frau. »Ich habe dich vor einigen Monaten im Fernsehen gesehen.«
»Hm.« Er erinnert sich vage an ein Interview, zu dem er sich nach tagelangem Druck von Seiten der Presseabteilung und von Armando Zattola persönlich hatte breitschlagen lassen.
»Ich habe auch den Schrei des Hasen gelesen«, sagt die Frau.
»Ja?« Sie wegen des Titels seines Buches zu verbessern wäre das Letzte, was ihm jetzt einfallen würde.
»Im Hotel in Singapur«, sagt die Frau. »Als wir noch die Asienroute geflogen sind.« Ihre Miene verändert sich weiter: Auf ihren Lippen erscheint sogar die Spur eines Lächelns.
»Wirklich?«, sagt er, völlig ermattet, weil sein Informationsbedürfnis nach ganz anderer Nahrung lechzt.
»Mhm«, macht sie. »Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben, ich konnte es nicht mehr weglegen.«
»Freut mich«, sagt er unverbindlich.
»Ja, aber der Schluss ist eine arge Enttäuschung«, sagt sie. »Man kapiert nicht einmal, ob er sie wiederfindet oder nicht. Ich bin mir echt blöd vorgekommen. Wie, da führst du mich vierhundertsoundsoviel Seiten lang an der Hand, und dann lässt du mich einfach so stehen?«
»Es ist ein offener Schluss.« Vergeblich strengt er sich an, um sich an die Gründe zu erinnern, die ihn damals beim Schreiben dazu bewogen haben.
»So ein Quatsch«, sagt die Frau. »Es ist eine Verarschung und kein Schluss.«
»Die Idee ist, dass der Leser sich das Ende selbst ausdenken kann«, sagt er unbewegt.
»Na ja«, sagt die Frau. »Mich hat es bloß maßlos geärgert. Ich wollte dir sogar schreiben, um es dir zu sagen, aber dann war so viel los und ich habe es seinlassen.«
»Du hast es mir ja jetzt gesagt.« Er platzt schier vor Ungeduld, über anderes zu reden.
Die Frau schaut ihn an, als fühlte sie sich noch nicht ganz entschädigt als Leserin.
»Wo ist Clare hingegangen?«, fragt er.
»Ich weiß es nicht.« Die Frau schüttelt den Kopf.
»Aber natürlich weißt du es«, sagt er. »Du hast ihr doch den Koffer irgendwohin gebracht. Das war ihrer, oder?«
»Nein«, sagt sie.
»Der orangefarbene Koffer?«
Die Frau schüttelt den Kopf, offenbar fest überzeugt.
»Wo hast du ihn hingebracht?«, fragt er. »Wo ist Clare?«
»Frag mich nicht, bitte«, sagt die Frau.
»Und ob ich dich frage!« Er schlägt den freundlichsten Ton an, dessen er in seinem Zustand fähig ist. »Und wie ich dich frage!«
»Warum sollte ich es dir sagen?«, erwidert sie.
»Damit nicht alles so ausgeht wie in meinem Buch«, sagt er.
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