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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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»Du hast recht, dieser abgehackte Schluss ist eine Verarschung.«
    Sie sieht ihn an: irritiert, müde, zur Loyalität gegenüber ihrer Freundin verpflichtet, geschmeichelt von dieser unerwarteten Rolle, überwältigt von der zermürbenden Hitze der Nacht.
    »Sag mir, wo sie hingegangen ist«, drängt er.
    Sie fixiert ihn weiter, und es ist schwer einzuschätzen, ob sie in ihm nur den Romanschluss-Killer sieht oder auch noch etwas mildere Gefühle für ihn hegt.
    »Bitte«, sagt er flehentlich.
    Schließlich zuckt sie die Achseln: »Sie fliegt nach Vancouver zu ihrer Schwester. Nach Kanada.«
    »Ich weiß, wo Vancouver liegt«, sagt er schnippisch, bereut es aber sofort.
    »Na dann.« Ihr Gesichtsausdruck ist schon wieder ziemlich verschlossen.
    »Welches Flugzeug nimmt sie?«, sagt er. »Wann?«
    »Das weiß ich nicht«, sagt die Frau.
    »Was soll das heißen?«, knurrt er.
    »Ich weiß es nicht«, wiederholt die Frau. »Sie hatte mich gebeten, die Flüge für sie zu checken, und ich habe ihr alles auf einen Zettel geschrieben, aber welchen sie nun nimmt, weiß ich wirklich nicht.«
    »Was für Flüge gibt es?«, fragt er. »Wo fliegen sie ab? Wann?«
    Sie zögert, dann sagt sie: »Um sechs Uhr vierzig gibt es die Lufthansa von Linate, zwei klm um sechs Uhr fünfzig von Linate und Malpensa, eine AirCanada, glaube ich, um sieben Uhr zehn, auch von Malpensa. Dann noch eine British Airways, ich weiß nicht mehr, wann, und noch andere, bis zum Abend.«
    »So viele?« Die Unkontrollierbarkeit der Hypothesen bringt ihn in Panik. »Das kann doch nicht sein! Nach Vancouver? Wie viele Leute können schon jeden Tag von Mailand nach Vancouver wollen?«
    »Sie sind alle mit Zwischenlandung«, sagt die Frau, nun ihrerseits genervt.
    »Wo?« Er läuft weiter auf dem Gehsteig neben ihr her, mit hochkonzentrierter Aufmerksamkeit.
    »Frankfurt, Amsterdam, London, das kommt darauf an«, sagt sie. »Dann noch in San Francisco oder Calgary oder in anderen Städten, je nach Fluggesellschaft.«
    »Warum gibt es bloß so viel Auswahl?« Seine Gedanken sind völlig außer Kontrolle. »Von morgens bis abends werden wir mit Alternativen überschüttet, bei allem! Einfach die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zu haben wie in meiner Kindheit, das gibt es überhaupt nicht mehr!«
    Auf einmal wirkt die Frau wieder erschrocken, sie schaut ihn an wie einen Irren.
    »Welchen Flug nimmt Clare deiner Meinung nach?« Er zwingt sich zur Ruhe, obwohl sich in seinem Kopf unaufhaltsam die Namen von Fluggesellschaften, Städten und Ländern häufen, Flugzeuge mit verschiedenen Schildern auf verschiedenen Rollfeldern, verschiedenfarbige Routen, die die Weltkarte überziehen.
    Die Frau zuckt die Achseln. »Was weiß ich.«
    »Sie wird einen der ersten nehmen, nicht wahr?«
    »Wenn sie denn fliegt«, sagt die Frau.
    »Was soll das heißen?« Schon wieder drängen sich Dutzende von Bildern zwischen seine Gedanken, lassen sich nicht bremsen oder auch nur in eine Wahrscheinlichkeitsordnung bringen.
    »Es kommt darauf an«, sagt die Frau. »Ob sie einen Platz kriegt, was es kostet, von welchem Flughafen. Falls sie nicht beschließt, doch hierzubleiben.«
    Er beißt in seinen rechten Zeigefinger, sein Herz schlägt immer schneller: »Könntest du sie nicht anrufen? Und sie mir kurz geben?«
    »Jetzt fang bloß nicht wie der andere an«, sagt Matilde. »Sie hat ihr Handy sowieso abgeschaltet. Sie hat mir gesagt, dass sie mit niemandem mehr reden will.«
    »Probier’s trotzdem noch mal«, sagt er. »Versuch’s.«
    Die Frau schüttelt den Kopf.
    »Weißt du wenigstens, wie die Schwester in Vancouver heißt?«, fragt er. »Wo sie wohnt?«
    »Nein.« Je länger er Matilde bedrängt, umso mehr scheint sie zu bereuen, dass sie ihm Zugeständnisse gemacht hat, umso verschlossener wird ihr Gesicht.
    »Hat sie dir keine Adresse dagelassen?« Er schafft es nicht, den Druck zu lockern, obwohl ihm die katastrophalen Folgen bewusst sind. »Eine Telefonnummer, irgendwas?«
    »Nein. Ich habe dir schon zu viel gesagt.« Die Frau schaut ihn nicht an, zieht den Hausschlüssel aus der Hosentasche.
    »Kann ich nicht mit raufkommen und in ihrem Zimmer nachschauen?«, drängt er. »Nur drei Minuten.«
    »Du spinnst wohl!«, sagt Matilde. »Natürlich nicht!« Keine Spur mehr von der schwachen Sympathie, die ein paar Minuten lang aufgeflackert war, oder von dem Groll der enttäuschten Leserin; sie wirkt nur noch wie eine Fremde, die nachts um zwei vor ihrer Haustür belästigt

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