Sie und Er
leben, und weil seine Arbeit in einer sehr stressigen Phase sei und er körperlich und geistig Raum brauche, was aber absolut nicht bedeute, dass er sie nicht liebe, sondern höchstens, dass er sich von ihrer Beziehung nur das Beste wünsche und so weiter. »Ich glaube nicht, dass überhaupt irgendetwas auf Dauer ist«, hatte sie erwidert, sobald sie die Sprache wiedererlangt hatte, mit Ohrensausen und glühenden Wangen vor lauter Wut auf sich selbst. Gleich darauf war sie aufgestanden, hatte sich hastig angezogen und dabei gelacht vor Verlegenheit, sich in einer so dummen Rolle zu befinden, die ihrem Charakter und ihren Bestrebungen so gar nicht entsprach. Sie hatte ihren Laptop eingeschaltet und im Internet Anzeigen unter der Rubrik »Mitbewohner gesucht« angeschaut, während Stefano sich in Widerrufen und Entschuldigungen wand und flehte, sie solle ihn umarmen oder wenigstens anlächeln oder ihm jedenfalls schwören, dass sie nicht böse sei, denn dafür gebe es wahrhaftig keinen Grund, wirklich gar keinen.
Es kommt ihr heute noch unglaublich vor, wenn sie daran zurückdenkt, wie es dazu gekommen ist, dass sie ihr Leben und ihre Arbeit in Ligurien aufgegeben hat, um zu Stefano nach Mailand zu ziehen. Anstatt ihrem Instinkt und der Stimme ihres unabhängigen Geistes zu folgen, hatte sie sich angepasst und seinem galanten Werben und seinen klaren Vorstellungen stattgegeben: Mutter kennenlernen, gleichen Freundeskreis haben, gemeinsame Zukunft aufbauen. Sie hatte seine immer entschiedeneren Behauptungen für bare Münze genommen: dass es unerlässlich sei, in derselben Stadt und derselben Wohnung zu wohnen, wenn sie eine wirklich erwachsene Beziehung zueinander aufbauen und es nicht bloß bei einem Abenteuer mit leidenschaftlichen Wochenenden belassen wollten. Also packte sie ein paar Sachen in zwei Koffer und zog zu ihm. Einige Monate lang fuhr sie jeden Morgen quer durch die Stadt, um in einem unendlich tristen Büro für technische Übersetzungen in der östlichen Peripherie zu arbeiten, mit einem widerwärtigen, geizigen Chef, der, wenn er ging, die Heizung abstellte und sie in der Kälte sitzen ließ. Und all das hatte bei Stefano nicht etwa Dankbarkeit geweckt, sondern das Gefühl, sie sei in seine Privatsphäre eingedrungen; sie muss lachen, wenn sie jetzt daran denkt, und den Kopf schütteln. Sie kann nicht fassen, wie kindisch unsere Grundmuster sind: Was man will, das kriegt man nicht, und was man kriegt, das will man nicht. Kaum hatte sie sich in der neuen Wohnung eingerichtet, eine bessere Arbeit in einer Sprachenschule und auch ein paar Freunde gefunden, begann Stefano, sie mit wachsendem Eifer anzuflehen, wieder bei ihm einzuziehen, und ihr zu schwören, er habe das, was er gesagt hatte, nur gesagt, weil er Angst hatte und verwirrt war angesichts der ersten wirklich ernsten Beziehung seines Lebens. »Mach dir keine Sorgen«, sagt sie jedes Mal zu ihm, wenn sie darüber sprechen. »Es ist viel besser so. Jeder hat seinen eigenen Bereich, und wir sehen uns, wann wir wollen.« Natürlich ist es überhaupt nicht besser so, denn die Enttäuschung, die sich bei ihr eingeschlichen hat, zieht sich seither durch ihre Beziehung wie ein Riss in der Wand. Die meiste Zeit ist sie kaum spürbar, aber sie ist da.
Sie zieht die Jeans und die Baumwollbluse aus, geht ins Bad, um zu pinkeln und sich Hände, Gesicht und Achseln zu waschen, dann schlüpft sie in ein Paar Shorts und ein T-Shirt. Sie ist diesem hässlichen Zimmerchen in diesem traurigen kleinen Appartement dankbar dafür, dass es ihr gestattet, sich trotz allem frei zu fühlen. Der Platz reicht kaum aus, genügt aber für ihre Übungen zur Musik eines cd-Players, der an zwei winzige Lautsprecher angeschlossen ist.
Sie mag kompakte, tragbare Gegenstände; ihr Ideal wäre, nur so viel zu haben, wie in einen einzigen Koffer passt, und Schluss. Kleinstes Ausmaß, größte inhaltliche Dichte. Wenn sie ein größeres Zimmer oder eine weitläufigere Wohnung hätte, würde sie nur die wenigen Dinge hineinstellen, die sie jetzt besitzt, sie hätte einfach mehr freien Raum zur Verfügung. Gymnastik hingegen ist für ihr Gleichgewicht unverzichtbar, wie joggen und lesen und träumen und gesund essen. Es ist eine Mischung, die sie selbst entwickelt hat, aus Yoga und Tai-Chi und Elementen der Kampfsportarten, die ihr Vater jahrelang den Soldaten der amerikanischen Spezialtruppen und auch ihr und ihren vier Schwestern beigebracht hatte, entgegen der Missbilligung ihrer
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