Sie und Er
Mutter, die diesen Sport für Mädchen zu brutal fand. Sie aber braucht genau das: den äußersten Einsatz jeder Muskel- und Nervenfaser, die Willensanstrengung, um Müdigkeit und Faulheit zu überwinden. Nur zweimal hat sie versucht, in ein Fitnessstudio zu gehen, doch anstatt aufzutanken, schien ihr, sie würde Energie verlieren in so nahem Kontakt mit den verschwitzten Leibern von wildfremden Menschen, den Maschinen und ihren Räderwerken und Motoren, dem künstlichen Licht, der verbrauchten Luft. Damit eine körperliche Aktivität ihr Spaß macht und guttut, muss sie sie allein ausüben, ohne dass jemand sie anleitet oder einschränkt oder irgendwie drängt.
Ihr Handy klingelt mit dem Riff von Keith Richards’ Elektrogitarre aus Jumpin’ Jack Flash, den sie vor einem Monat aus dem Internet heruntergeladen hat. Es ist Stefano: »Hallo, wie geht’s?«
»Gut, und dir?«, sagt sie. Sie stellt die Musik leiser, stützt die Hände auf die Stuhllehne, schwingt ein Bein nach hinten.
»Ich sitze hier fest«, sagt er. »Um halb neun habe ich eine Videokonferenz mit New York.« Er lässt keine Gelegenheit aus, um zu betonen, dass er eine komplexere, anspruchsvollere, wichtigere Arbeit macht als sie: Er kann einfach nicht anders.
»Dann telefonieren wir später«, sagt sie, schleudert das andere Bein nach hinten, immer abwechselnd. Sie könnte nicht darauf verzichten, ihren Körper wenigstens einmal am Tag auf Trab zu bringen, zu spüren, wie das Blut kreist, das Herz schneller schlägt. Ihre Schwestern sind genauso, das Bedürfnis nach körperlichem Ausdruck liegt bei den Molettos in der Familie: Ob beim Tanzen oder bei der Gymnastik oder im Sex, keine von ihnen ist nur kopflastig.
»Hast du etwas über diesen Deserti herausgefunden?«, fragt Stefano. »Ich habe nämlich hier die Sekretärin nachschauen lassen, aber er steht nicht im Telefonbuch. Er wird so eine bescheuerte Geheimnummer haben, was weiß ich.«
»Ich habe einige Angaben ausfindig gemacht«, sagt sie und bemüht sich, ihren Atem zu kontrollieren. »Einschließlich Versicherung.«
»Gib sie mir«, sagt Stefano. »Ich muss sie an meine Versicherung weitergeben, ich bin schon eine Woche im Verzug.«
»Ja, aber es sieht so aus, als wäre sie abgelaufen.« Clare versucht, normal zu sprechen, was nicht leicht ist, wenn sie sich weiter so bewegt. Andererseits hat sie keine Lust, aufzuhören oder langsamer zu werden. Im Gegenteil, je stärker sie Stefanos geistige Anspannung spürt, umso mehr braucht sie zum Ausgleich die körperliche Anspannung bei ihren Übungen.
»Abgelaufen?!«, fragt Stefano aufgebracht. »Was soll das heißen, es sieht so aus? Seit wann?«
»Seit drei Monaten.« Sie weiß nicht, warum, aber irgendwie empfindet sie eine klammheimliche Freude dabei, ihm diese Nachricht mitzuteilen. Es ist nur ein Aufflackern zwischen ihren Gedanken und Gefühlen, verstohlen wie ein kleines Wildtier im Gesträuch.
»Ich wusste es!«, sagt Stefano. »Der Typ ist ein alkoholsüchtiger Junkie, der nicht ganz richtig im Kopf ist! War ja klar, dass das so kommt! Ich habe schon dreihundert Euro gezahlt, nur um das Wageninnere von seiner Kotze zu reinigen!«
»Hör zu, das ist nicht meine Schuld«, sagt sie.
»Dass er ins Auto gekotzt hat, schon!«, sagt Stefano. »Du wolltest ja um jeden Preis, dass wir ihn fahren, anstatt den Krankenwagen zu rufen! Es war absurd, aber nein, sie musste unbedingt die Retterin spielen!«
Sie antwortet nicht, sie schleudert nur weiter die Beine abwechslungsweise nach hinten. Sie weiß jetzt schon, dass er sich später für seinen Ausbruch entschuldigen wird, noch heute Abend oder spätestens morgen früh, und auch die Gründe kennt sie schon: die Verantwortung bei der Arbeit, die Spannungen mit seinem Boss in der Kanzlei, die Müdigkeit, der Moment.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragt Stefano. »Zu den Carabinieri gehen? Einen Prozess anstrengen, um ihm die Haut abzuziehen?«
»Vielleicht könntest du mal probieren, mit ihm zu reden?«, schlägt sie vor. Sie beugt sich nach vorn, macht Rumpfbeugen an der Stuhllehne; vergeblich versucht sie, sich vor dem Ärger zu schützen, den er weiter in ihr rechtes Ohr gießt.
»Aber sicher!«, sagt Stefano. »Und ihn womöglich auch noch verstehen, den Ärmsten! Ihm erklären, dass es mir überhaupt nichts ausmacht, dass er mein Auto zu Schrott gefahren hat, dass wir nicht an materiellen Gütern hängen, o nein, da stehen wir drüber!«
Eine der Saiten, die sie unbewusst
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