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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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weg, tut so, als sei nichts.
     
    Gegen sechs Uhr abends geht sie ein Stück zu Fuß durchs Zentrum und steigt dann in die U-Bahn. Sie fährt vier Haltestellen mit der roten Linie, dann noch vier mit der grünen. Nach dem seltsamen, sintflutartigen Regen der letzten Wochen schlägt der Sommer jetzt unbarmherzig zu, überhitzt die Waggons voller erschöpfter Menschen. Wie so oft vergleicht sie das Aussehen der Leute am Abend mit dem vom Morgen, als alle, obwohl gerade aus dem Schlaf gerissen, bereit waren, ihre kleinen individuellen Schlachten zu schlagen, sorgfältig gekämmt, geschminkt, rasiert, parfümiert, ordentlich gekleidet. Jetzt wirken sie wie Überlebende, zusammengepfercht, abgekämpft und stumpf, die sich nach etwas Abwechslung oder nach einem ruhigen Abend zu Hause sehnen. In diesen Augenblicken vermisst sie ihr Häuschen gleich hinter der ligurischen Küste ganz besonders, die Hängematte zwischen den Olivenbäumen in dem kleinen verwilderten Garten, die Dusche im Freien und die Katzen auf den Trockensteinmäuerchen; das Gefühl der nackten Füße auf dem ungleichmäßigen Gras und dem steinigen Maultierpfad, den freien Himmel, das üppige Grün rundherum, die seltenen Geräusche, die aus großer Ferne einzeln erkennbar sind, die stets vorhandene Möglichkeit, über die Hügel ans Meer hinunterzugehen. Aber es ist eine Sehnsucht auf Zeit, genau wie ihr Leben und ihre Arbeit in dieser Stadt, kein Dauerzustand, zum Glück. Obwohl Stefano und ihre vorherigen Freunde es darauf angelegt haben, sie in ein System von langfristigen Plänen einzubinden, hat sie sich immer gefühlt wie jemand, der sein Boot auf Sichtweite lenkt, der seine Route der Richtung der Winde anpasst, dem Klima, der Eingebung. Schon oft ist sie für ihre Fähigkeit, im Augenblick zu leben, bewundert worden, um dann aus genau demselben Grund kritisiert zu werden: Was gerade noch ein wunderbares Talent zu sein schien, verwandelte sich übergangslos in einen schweren Fehler. Sie blickt aus nächster Nähe auf einen blonden Haarschopf, so dass sie am Scheitel die dunkel nachwachsende Linie sehen kann, und denkt, wie fein der Übergang ist, erst jemandes Charaktereigenschaften zu schätzen und sie dann verändern zu wollen.
    An ihrer Haltestelle geht sie die Treppe der U-Bahnstation hinauf, tritt auf die von Bars gesäumte Straße hinaus, wo die Tischchen und Stühle und Sofas schon auf die Gäste der Happy Hour warten. Tief atmet sie die Luft ein, Feinstaub hin oder her. Sie nimmt die Eisenbrücke über den Kanal, kauft in einem kleinen Supermarkt, der von einem dicken, traurigen jungen Mann aus Süditalien geführt wird, Weizenflocken und eine Tüte Sojamilch, ein Glas Pulverkaffee und einen Frischkäse, eine Packung Cherry-Tomaten und ein Schälchen Heidelbeeren. Dann geht sie mit schnellen Schritten die Allee entlang, wo ihre Joggingstrecke durchführt, vorbei an der Backsteinmauer des Schwimmbads, den tristen Sozialwohnungen, der endlosen Zementmauer, hinter der sich wer weiß was befindet - mit den richtigen Schuhen und ohne die Einkaufstüte würde sie auch jetzt joggen. Endlich erreicht sie die Kreuzung über den starkbefahrenen Ring und biegt in ihre kleine graue Straße ein. Sie betrachtet die trostlose Fassade des Gebäudes, in dem sie wohnt, die Balkone, auf denen Mineralwasserkästen, Plastikplanen, ein altes Fahrrad und ein paar leere Blumentöpfe verstauben, die halb heruntergelassenen Jalousien des Appartements im ersten Stock, das sie mit Matilde teilt.
    Sie durchquert den kleinen blassgrünen Eingang, wo in einer Ecke eine schwärzliche Schusterpalme vor sich hin kümmert; zum Glück, denkt sie, ist auch diese Unterkunft eine Lösung auf Zeit. Dennoch kommt sie nun seit fast zwei Jahren jeden Abend hierher und wacht jeden Morgen hier auf: Die Vorstellung erschreckt sie. Sie schließt die dunkle Holztür mit dem für paranoide Stadtbewohner eingebauten Spion auf, macht drei Schritte in den engen Flur, wo Koffer und Mäntel und die Schachtel eines Mikrowellenherds, die Matilde aus irgendeinem Grund nicht wegwerfen will, den Weg versperren. Sie erinnert sich an ihre Bestürzung, als sie zum ersten Mal hier war, am Tag nachdem Stefano, auf dem Rand des Bettes sitzend, wo sie sich geliebt hatten, ohne ihr in die Augen zu blicken, gesagt hatte, sie sei wundervoll und es gehe ihm sehr gut mit ihr, doch er fühle sich noch nicht bereit, seine Wohnung auf Dauer mit einer Frau zu teilen, weil er zu sehr daran gewöhnt sei, allein zu

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