Sie und Er
Karotten und Kirschtomaten, die sie in einer Tüte von zu Hause mitbringt. Das gibt ihr ein Gefühl von Freiheit, und sie fühlt sich ausreichend ernährt. Ab und zu fällt ihr wieder ein, was ihr Vater über die Ernährungsweise der Menschen zu sagen pflegte, als sie noch Sammler von Früchten und Samen und Wurzeln waren und Wälder und Steppen durchstreiften, bevor sie sesshaft wurden als Ackerbauern und Viehzüchter, Metzger und Fleischesser, Hüter und Gefangene ihrer Gehege. Das würde sie gern manchem Kollegen erzählen, der gerade seine Fertigmahlzeit in der Kantine vertilgt oder auch einen abgepackten Snack aus dem Automaten vor dem Damenklo, aber als Wahrheitsverkünderin aufzutreten interessiert sie nicht.
Wenn Stefano in leicht herablassendem Ton zu ihr sagt, dass diese Arbeit unter ihrer Würde ist, ergeht sie sich gewöhnlich kaum in Erklärungen. Bei sich jedoch denkt sie, dass er wahrscheinlich erstaunt wäre, wenn er einen Tag mit ihr verbringen würde, zwischen Telefonverbindungen, Übersetzungen, hektischen Erklärungen, Notfällen, Hin- und Herschieben von Verantwortungen, Verhandlungen, blitzschnell zu treffenden Entscheidungen. Die Versicherten sind über die ganze Welt verstreut, die Öffnungszeiten von Werkstätten und Krankenhäusern variieren je nach Zeitzone, Pannen und Unfälle haben die merkwürdige Tendenz, sich in manchen Augenblicken zu ballen. Einmal musste sie die Überführung des Leichnams eines Versicherten organisieren, der in der Türkei von einem Lastwagen überfahren worden war, ein andermal die eines Mannes, der in einem Museum von Sevilla einen Herzinfarkt erlitten hatte; außerdem hat sie mit Dutzenden von schweren Unfällen zu tun gehabt, mit Lebensmittelvergiftungen, plötzlichen Viruserkrankungen, Zusammenbrüchen und katastrophalen Stürzen. Stefano behauptet, ihr Verantwortungsgefühl stehe in keinem Verhältnis zu ihrem Lohn, aber sie empfindet jedes Mal, wenn es ihr gelingt, einen Fall zu lösen, eine außerordentliche Befriedigung. Sie weiß, dass es nicht ihr Traumjob ist und dass ihr Gehalt niedriger ist als das, was sie in Ligurien bekam; gleichwohl meint sie, dass jede Arbeit interessant ist, solange man neugierig ist, und dieser Job hier ermöglicht ihr, einige ihrer Stärken zu nutzen: ihre Fähigkeit zuzuhören, ihre Neigung, sich um andere zu kümmern, ihre Freude an Sprachen. Erstaunlicherweise gefällt ihr auch die Unvorhersehbarkeit des Rhythmus: die gedehnten Pausen und die plötzlichen Beschleunigungen, wenn sich die Anfragen überlagern und vervielfachen, die Notwendigkeit, rasch mal tote Zeiten zu überbrücken, dann wieder zu improvisieren und konkret behilflich zu sein.
Jetzt zum Beispiel ist da ihre Kollegin Licia, die am Nebenplatz sitzt, wie sie mit einem auf Ende September befristeten Vertrag, und vergeblich mit dem Problem eines Versicherten kämpft, der mit seiner Familie in Igoumenitsa festsitzt wegen eines Schadens an seinem japanischen Geländewagen. Der Kunde fürchtet, dass der Mechaniker ihn hereinlegen will, und ist verstört bei dem Gedanken, dass sein Urlaub futsch ist; Licia hat sich schließlich an Roberta die Supervisorin gewandt, die den Hörer genommen hat und dem Kunden jetzt zum dritten Mal in immer strengerem Tonfall die Politik der Versicherungsgesellschaft erläutert: »Wenn es sich um eine Vertragswerkstatt handelt, müssen wir der Diagnose des Mechanikers vertrauen. Wenn er gesagt hat, dass es sich um den Zylinderkopf handelt, wird es wohl der Zylinderkopf sein. Ich wiederhole…« Plötzlich schnauft sie unwillig, drückt sich den Hörer auf den Bauch, blickt sich um; dann macht sie Clare ein Zeichen, dass sie die Sache zu Ende bringen soll.
Clare übernimmt das Gespräch: »Guten Tag, ich bin Clare. Schildern Sie mir das Problem.«
»Er hat es schon geschildert, das Problem«, flüstert Roberta die Supervisorin genervt.
»Es ist, als würde der Motor nur mit zwei Zylindern fahren!«, schreit der Versicherte am anderen Ende der Leitung. »Er hat auf einmal keine Kraft mehr, einfach so!«
»Was sagt der Mechaniker?«, fragt sie, so gelassen wie möglich, und setzt sich an Licias Platz.
»Es ist der Zylinderkopf«, zischt Roberta hinter ihr. »Schluss, aus.« Sie hat dicke Beine, die weiße Jeans spannt über ihrem breiten Hintern, während sie vor Wut bebend auf und ab geht.
»Er behauptet, dass man den Zylinderkopf erneuern muss!«, schreit der Versicherte. »Dass er mindestens zehn Tage braucht, bis er die
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