Sie und Er
angezogen haben an ihm, denkt sie, ist seine so über jeden Zweifel erhabene Weltanschauung, die er entschlossen gegen jeden Angriff verteidigt. Auch wenn sie gänzlich verschiedener Meinung sind, so wie jetzt, kann sie nicht umhin, beeindruckt zu sein, wie vollkommen sein Mailänder Akzent mit dem Stil seiner Kleidung und seinem Beruf und seiner sozialen Herkunft, mit seiner Augenfarbe und seinem Verhalten übereinstimmt.
»Mit dem rede ich nicht!«, schreit Stefano. »Sonst schlage ich ihm noch die Fresse ein!«
»Dann halt nicht«, sagt sie. »Wir hören uns später, ciao.« Alberto, der Mann, mit dem sie vor Stefano gelebt hatte, war hochgradig labil, er schwankte ununterbrochen zwischen übersteigerter Exaltiertheit und Abgründen plötzlicher Zerbrechlichkeit. Nach fünf Jahren abwechselnder Allmachtserklärungen und verheerender Krisen, Liebesliedern, die er für sie geschrieben hatte, und ordinären Gesten, Betrachtung der Sterne und systematischen Besäufnissen, Abendessen bei Kerzenschein und Zuspätkommen bei jeder Verabredung, was mit der Anmaßung des nie erwachsen gewordenen Kindes gerechtfertigt wurde, kam ihr die Ordnung in Stefanos Hirn vor wie ein wunderbar geschützter Ankerplatz. Stefano versäumt seinerseits nie eine Gelegenheit, um zu betonen, wie viel sie noch zu lernen hat, wenn sie eine erwachsene Frau werden will, die sich auf angemessene Weise in der Welt bewegt. Daher hat sie sich lange und nach Kräften bemüht, ihre Sicht auf die Dinge zurechtzurücken, zu verstehen und sich zu verändern. Sehr weit hat sie es nicht gebracht, scheint ihr; aber sie hat es versucht, sie versucht es.
»Waaarte!«, schreit Stefano. »Mir ist klar, dass dich mein Auto einen Dreck interessiert, aber wenigstens etwas formale Anteilnahme, verdammt noch mal!«
»Ich nehme ja Anteil«, antwortet sie. »Doch jetzt habe ich zu tun.«
»Ich weiß, was du zu tun hast, Gymnastik machen«, sagt Stefano. »Ich höre es an deiner Stimme, dass du Gymnastik machst! Und außerdem diese Musik!« Wieder die Eifersucht auf alles, was sie für sich tut: Wieder ärgert es sie, aber es rührt sie auch, weil es sein uneingestandenes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit enthüllt.
»Ja und?« Sie versucht, weiter ihre Kniebeugen zu machen. Noch nie hat sie gern lange am Telefon geredet, schon lange bevor sie diese zu neunzig Prozent aus Telefonieren bestehende Arbeit hatte. Sie findet, es sollte dem kurzen Informationsaustausch dienen, nicht zeitlich unbegrenzten Gesprächen. Sogar wenn sie über Skype mit ihren Schwestern in den Vereinigten Staaten und Kanada spricht, passiert es ihr gelegentlich, dass sie dem konzentrierten Kurzaustausch aus der Zeit nachtrauert, als internationale Telefongespräche noch sündteuer waren und man gewiss nicht Gefahr lief, mit immer zerstreuterem Blick stundenlang in immer allgemeinere Worte abzudriften.
»Nichts«, sagt Stefano. »Ciao.« Er ist jetzt gekränkt, auf diese überhebliche und kindliche Art, die sie genauso aufbringt und rührt wie seine Eifersucht.
»Wenn du willst, rufe ich Daniel Deserti an«, sagt sie. »Ich bin sicher, dass er keine Lust auf einen Gerichtsprozess hat.«
»Woher nimmst du diese Sicherheit?«, fragt Stefano.
»Ich stelle es mir vor«, sagt sie. »Ich glaube nicht, dass ein Künstler darauf versessen ist, es mit einem Rechtsanwalt aufzunehmen.« Sie sieht wieder vor sich, wie Daniel Deserti verletzt in seinem Auto sitzt: der dunkle, tiefe Blick, die wirren Haare, das Blut, das ihm über die Stirn läuft, das am Kragen geöffnete rotfleckige Hemd. Da ist ein leichtes Herzklopfen, das ihren Atem kurz verlangsamt, auch wenn sie nicht begreift, warum.
»Ach ja, du kennst dich ja aus mit Künstlern«, sagt Stefano, wahrscheinlich spielt er damit auf Alberto an, auf den er phasenweise immer noch eifersüchtig ist.
»Wieso?«, fragt sie. Häufig möchte sie seine inneren Mechanismen besser verstehen, wissen, was ihnen wirklich zugrunde liegt.
»Es gefällt mir nicht, dass du dich auf ihn einlässt«, sagt Stefano.
»Ich habe nicht die geringste Absicht, mich auf ihn einzulassen.« Wahrscheinlich, denkt sie, stört ihn, dass sie beide so unterschiedlich sind, was Charakter und Weltanschauung betrifft. Er schwankt ständig zwischen Groll und Bewunderung, Staunen und Missbilligung und hat das Bedürfnis nach Kontrolle.
»Na gut, mach, was du willst, ich muss jetzt auflegen«, sagt er. »Wir telefonieren später.«
»Ciao«, sagt sie. Sie dreht die Musik auf, widmet
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