Sie und Er
besser mit ihrer Andersartigkeit zu leben als früher, aber es ist eine vorläufige und nicht sonderlich stabile Errungenschaft, die bei neuen Anpassungsversuchen immer wieder wankt. Diesem Gefühl des Fremdseins entspringt sicher ein Großteil ihrer Zweifel und Unsicherheiten, aber auch ihre guten Eigenschaften: die Fähigkeit zu staunen und die Lust zu lernen, das Interesse an den anderen, die Bereitschaft, Beweggründe und Standpunkte zu verstehen, die den ihren fernliegen.
Die Frauen, mit denen sie jetzt in der Bar sitzt, sind ebenfalls eher Außenseiterinnen, Freundinnen von Anna, die wie Clare mit befristetem Vertrag in der Rechtsabteilung der GreatAssistance arbeitet. Da ist Litani aus Beirut, die sich mit Informatik befasst und fast immer unterwegs ist, Maria und Silvia, die sich nach dem Ende ihrer Ehen zusammengetan haben und eine Werkstatt für handgemalte Stoffe an den Navigli betreiben, Lucie aus Bordeaux, die an der Brera-Akademie Restaurierung studiert, Margaret, die ihre agrartechnischen Forschungen an der Universität in Idaho Falls aufgegeben hat, um einem italienischen Ingenieur nach Mailand zu folgen und arbeitslos zu werden, Roxanne aus Dublin, die wenige Blocks von hier als Kellnerin in einem irischen Pub arbeitet, das einem italienischen Mafioso gehört. Wenn sie sagen sollte, was ihnen gemeinsam ist, außer der Neugier aufeinander und der ungekünstelten Offenheit, dann wohl, dass alle ein gesellschaftliches oder persönliches Handicap haben. Sie kennt keine von ihnen näher, auch Anna nicht, die ihr bei der Arbeit sofort sympathisch war wegen ihrer tolpatschigen Art, sich zu bewegen, ihren kurzsichtigen Augen, den ulkigen Hütchen, die sie trägt. Doch hat sie das Bedürfnis, wenigstens ab und zu Menschen zu sehen, die nicht zu Stefanos Ambiente gehören; sie möchte sich mitteilen, sich beteiligen, den Kreis erweitern. In der Theorie hat Stefano nichts dagegen einzuwenden, aber zuletzt ist er jedes Mal genervt, wenn sie allein ausgeht, genau wie ihn ihr Joggen stört, ihre Gymnastik, ihre Arbeit, die Romane, die sie auf Englisch liest, und alles andere, was sie seiner Kontrolle entzieht. Daher ist jetzt dieser Aperitif mit Annas Freundinnen eine beinahe illegale Angelegenheit, die ihr Schuldgefühle verursacht, aber gleichzeitig etwas Aufregendes hat.
Litani erzählt gerade von einem Typen, den sie beruflich in Wien kennengelernt hatte und der nach monatelangem E-Mail-Wechsel und Treffen in Hotels verschiedener Städte vorige Woche, als sie ihn zur Rede gestellt hat, zugeben musste, dass er verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat. »Das Unglaublichste ist, dass er plötzlich alles gegen mich wendet«, sagt Litani mit Tränen in den Augen. »Er sagt, ich hätte ihm nachspioniert und nie Vertrauen zu ihm gehabt und ihn in eine unerträgliche Lage gebracht, denn die Wahrheit gleichzeitig vor seiner Frau und vor mir zu verbergen hätte ihn so viel Stress gekostet, dass er Magenkrämpfe bekommen hätte!«
»Weißt du, wie oft mir das mit verheirateten Männern passiert ist?«, sagt Roxanne und streicht ihr zum Trost über die Schulter.
»Sobald das Spielzeug kaputtgeht, werden sie zu Hyänen, werfen dir alle Schuldgefühle an den Kopf, die sie beim Erfinden von Ausreden und Lügenmärchen angesammelt haben.«
»So wie mein teurer Exmann«, sagt Silvia, »als ich die Sammlung von E-Mails entdeckt habe, die er drei Jahre lang mit seiner Geliebten ausgetauscht hat.«
»Hatte er sie ihr nicht sogar gedruckt und gebunden?«, sagt Maria, um das Bild abzurunden.
»Ja, ein hübsches Bändchen«, erwidert Silvia. »Er hatte es in der Nachttischschublade.«
»Und was hast du gemacht?«, fragt Roxanne.
»Ich habe es ihm beim Abendessen auf den Tisch gelegt«, sagt Silvia. »Neben seinen Teller.«
»Und er?«, fragt Roxanne.
»Er hat kaum einen Blick drauf geworfen«, sagt Silvia. »Und anstatt, was weiß ich, zu heulen und um Verzeihung zu bitten, wie ich es erwartete, hat er mich angeschrien, dass ich ihn anekele.«
»Dass du ihn schon immer angeekelt hast«, fügt Maria hinzu.
»Ja, und noch dazu vor der Kleinen«, sagt Silvia. »Plötzlich behauptet er, dass er meine Tätowierung am Rücken zum Kotzen findet, dass er seit neun Jahren nicht schlafen kann, weil ich mich dauernd im Bett wälze, dass der Urlaub in Sardinien mit mir und der Kleinen für ihn schlimmer war als Zwangsarbeit, dass er jeden Sonntag zu Haus alle fünf Minuten auf die Uhr schaut in der Hoffnung, dass der Tag bald um
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