Sie und Er
geschieht, bereit, mit Tritten und Fäusten zu reagieren, wild zuzuschlagen, bevor er selbst getroffen wird, zu schreien, zu stoßen, loszustürmen wie seine Gedanken, während er den großen, unförmigen Platz vor dem Bahnhof überquert, wo die Züge zum Flughafen fahren.
Als der Zug sich in Bewegung setzt, schiebt er sich die Stöpsel des MP3-Players ins Ohr und hört die mündlichen Notizen ab, die er probeweise in den letzten Tagen für seinen neuen Roman aufgenommen hat. Es ist der Versuch, sich auf einem anderen Weg anzunähern, da es ihn im Moment zu sehr frustriert, eine Seite nach der anderen hinzuschreiben. Das Einzige, was bisher feststeht, ist der Titel, und nicht einmal auf Italienisch, sondern auf Englisch. The Love Delusion scheint ihm nicht übel, doch die italienische Übersetzung L’illusione dell’amore klingt schon so pathetisch, dass ihm die Lust vergeht weiterzuschreiben. Das Problem, scheint ihm, liegt an dem Wort illusione, das nicht genau mit delusion übereinstimmt. Deshalb hat er zu Hause seine drei Synonymwörterbücher gewälzt und ihre Inhalte in den MP3 diktiert, während er im Wohnzimmer zwischen den Kartons auf und ab ging. Er legt die Füße auf den Sitz gegenüber und hört sich selbst lesen: »Halluzination, Chimäre, Phantasterei, Ideal, Blendwerk, Vertrauen, Hoffnung, Utopie, Schein, Schwäche, Traum, Schmeichelei, Einbildung, Eindruck, Täuschung, Sinnestäuschung, Empfindung, Luftschloss, Fata Morgana, Erwartung, Gaukelspiel, Phantasie, Vision, Wunschvorstellung, Schatten, Wunschtraum, Versprechen, Attraktion, Gestalt, Finte, Netz, Gewebe.« Nach jedem Wort drückt er die Stopp-Taste, versucht, den Widerhall aufzunehmen, das geistige Bild zu betrachten, das spontan auftaucht. Aber der Klang seiner Stimme stört ihn und lenkt ihn ab, wie jedes Mal, wenn er sich selbst hört. Er spult zurück, versucht es erneut, doch es funktioniert nicht; nach etwa zehn Minuten findet er es absurd, dass er meinte, diese Methode könnte eine schöpferische Wirkung entfalten. Er reißt die Ohrhörer herunter, steckt sie zusammen mit dem MP3-Player in die Tasche und betrachtet die Vorstadt, die draußen vor dem Fenster vorbeizieht.
Zum Verkauf stehende Wohnungen zu besichtigen empfindet sie als schrecklichen Übergriff
Zum Verkauf stehende Wohnungen zu besichtigen empfindet sie als schrecklichen Übergriff, weil dabei die Verhaltensweisen, die Ticks, die Weltbilder, die Rituale, die Nachlässigkeiten und Schwächen der Besitzer so wehrlos der distanzierten Analyse preisgegeben werden. Nicht dass sie das schon oft getan hätte, nur einmal vor vielen Jahren mit Luigi und in jüngerer Zeit mit Alberto, der dann zuletzt, ohne sie überhaupt zu fragen, eine ehemalige Lagerhalle in Recco fast direkt unter der Eisenbahnbrücke gekauft hatte, weil es sich seiner Meinung nach um einen phantastischen Raum handelte, der sehr viel mehr wert war, als er kostete.
Jetzt folgt sie Stefano und Stefanos Mutter und der Hausherrin und der Maklerin durch diese ultrarespektablen Zimmer und leidet echte Qualen beim Anblick des geometrisch gemusterten Bettüberwurfs, des dunklen Schattens auf dem mit weißer Baumwolle bezogenen Kopfteil, wo sich Abend für Abend die Besitzer mit ihren Haaren angelehnt haben, der vielleicht bei Fernsehauktionen gekauften Stillleben und Aktbilder aus den sechziger und siebziger Jahren, der Kristallgläser und Porzellankätzchen auf den Regalen, der goldgelben Vorhänge an den Fenstern, der Ecken, die irgendeiner Haushaltshilfe aus Ecuador beim Staubsaugen entgangen sind, des Doppelwaschbeckens im Badezimmer, der makellosen Toilettenschüssel, in die die Hausherrin, die jetzt große Klasse und Distanz ausstrahlt, doch unzählige Male gekackt hat. Jede kleine Einzelheit beschwört Bruchstücke fremder Existenzen, die ihr unkontrolliert durch den Kopf schießen: wortloses Frühstück mit bitterem Espresso und ein paar trockenen Keksen, freudlose Abendessen, Abende auf dem Sofa, um in dem Fernseher, der im Wohnzimmer thront, Sendungen mit anzüglichen Komikern und halbnackten Assistentinnen zu sehen, Diskussionen über Kleinigkeiten, die durch die Lupe der Wiederholung riesengroß werden, Rollenspiele, im Lauf der Zeit perfektioniert, bis sie zur zweiten Natur geworden sind, Ellbogen an Ellbogen geputzte Zähne, mit vorgegebenem Interesse flüchtig im Bett gelesene Bücher, um nicht reden und nichts anderes tun zu müssen, jahrzehntelang zur gleichen Zeit ausgeknipste und wieder
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