Sie und Er
ist das sonderbar für eine Frau
Vielleicht ist das sonderbar für eine Frau, aber ehrlich gesagt hat ihr Shopping noch nie besonders Spaß gemacht. Zwar gefallen ihr die tausend Farben und Muster, die unterschiedlichen Schnitte, die Beschaffenheit der Stoffe, die Art, wie sie Teile ihres Wesens zur Geltung oder überhaupt erst zum Vorschein bringen, wenn sie sie anzieht. Doch eigentlich mag sie es viel lieber, wenn sie auf einem kleinen Markt unter freiem Himmel oder auch im Schrank ihrer Schwester etwas Passendes findet. Ihr scheint, dass sie sich mehr über ein neues Kleid freut, wenn sie zufällig darauf stößt, nicht geplant. Ebenso froh macht es sie, wenn sie eines ihrer Kleider einer Freundin oder Bekannten schenkt und feststellt, dass es der anderen besser steht als ihr: Das findet sie wunderbar.
Wenn sie doch etwas kaufen muss, was sie nicht auf dem Markt findet, geht sie lieber in ein Kaufhaus als in ein Geschäft, wo die Verkäuferin oder noch schlimmer die Inhaberin sie bedrängt und kontrolliert, während sie sich im Spiegel begutachtet, und sie überzeugen will, dass ein Rock oder eine Bluse, die ihr überhaupt nicht stehen, wie für sie gemacht seien. In einem Kaufhaus kann sie wenigstens anprobieren, was sie mag, dann womöglich alles wieder an seinen Platz hängen und gehen, ohne beim Verlassen des Geschäfts böse angeschaut zu werden. Wahrscheinlich kommt ihr Desinteresse daher, dass sie in einer Familie aufgewachsen ist, in der die Kleider von Schwester zu Schwester weitergegeben wurden, bis sie völlig verschlissen waren, aber ihr ist es recht so, sie hat kein Bedürfnis, an dieser Seite ihres Wesens etwas zu ändern.
Jedenfalls ist sie jetzt ins Untergeschoss des Kaufhauses Coin hinuntergegangen, das zwanzig Minuten von ihr zu Hause entfernt ist, einerseits, um der unglaublichen Hitze draußen zu entfliehen, andrerseits, weil sie eine Tischdecke sucht, die ein bisschen fröhlicher ist als die braune marokkanische, die Matilde immer auf dem Tisch in ihrer sowieso schon ziemlich trostlosen Küche ausbreitet. Abgelenkt von Gesichtern, Bewegungen und Worten anderer Kunden stöbert sie in den Regalen, bis sie eine in einem warmen rötlichen Orange findet. Sie würde auch gern zwei oder vielleicht vier von den matten Gläsern kaufen, deren unregelmäßige Form ihr gefällt, aber in diesem Augenblick wüsste sie nicht, in welcher Wohnung sie sie gebrauchen könnte und mit wem. Die Wohnungsbesichtigung mit Stefano und seiner Mutter kommt ihr wie ein böser Traum immer wieder hoch, und jedes Mal empfindet sie erneut Angst und Schuldgefühle. Es hängt nicht nur mit der geschmacklosen Einrichtung der Wohnung oder mit der Dynamik zwischen den beiden Panbiancos während ihres Rundgangs zusammen; da ist noch etwas anderes, das sie jetzt gar nicht in Betracht ziehen will, aber es belastet ihre Gedanken und ihren Magen. An der Kasse wartet sie hinter einer Frau, die ein halbes Dutzend Unterhemden und Unterhosen für ihren Mann eingekauft hat; schließlich schafft sie es, die Tischdecke zu bezahlen, nimmt ihre Tüte und wird von einem Mann angerempelt. »Entschuldigung«, sagt er, ohne stehen zu bleiben. Dann ruft er gehetzt: »Jenny?!«, und schaut in alle Richtungen. »Jehennnnny?!«
Sie schaut ihm nach, braucht ein paar Sekunden, bis sie kapiert, dass es Daniel Deserti ist. Er trägt weite schwarze Hosen, ein altes graues T-Shirt, und seine Haare sind wirr. Weiter hinten in dem weitläufigen Verkaufsraum steht ein großer, dünner Junge von etwa fünfzehn Jahren, der ähnlich aufgeregt wirkt; als Daniel Deserti auf ihn zugeht, wechseln sie besorgte Blicke. »Where the hellis she?!«, fragt Daniel Deserti.
»I know as much as you do, Dad!«, sagt der Junge.
»You were supposed to keep an eye on her!«, sagt Daniel Deserti.
»You were!«, sagt der Junge, ganz rot im Gesicht. Beide sind sichtlich in Panik.
Daniel Deserti macht wieder kehrt, stößt an Kleider, Menschen und Schaufensterpuppen, schaut noch einmal nach rechts und links, ruft: »Jehennnnyyyyy?!«
Die anderen Kunden ringsum sehen sich halb neugierig, halb beunruhigt zwischen den Regalen und Kleiderständern um, die zwei Kassiererinnen behalten die Szene im Auge, im Hintergrund kommt langsam ein Wachmann näher.
Der Junge, mit dem Daniel Deserti gesprochen hatte, kommt zur Kasse, wendet sich an die Kassiererin, ist aber so aufgeregt, dass er auf Italienisch nicht die richtigen Worte findet: »Meine Schwester da… nein, meine Schwester
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