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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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den Schrank, wo zwei Dosen Makrelen, eine Dose Linsen und ein Glas eingemachte Tomaten in den ansonsten leeren Regalen stehen.
    Jenny schaut hinein, mit ihrem prägnanten, empfindsamen Profil, den rötlichen Haaren und den Sommersprossen, die sie von ihrer Mutter hat. Sie ist eine sehr genaue Beobachterin. Manchmal betrachtet sie minutenlang schweigend eine Situation, danach ist sie in der Lage, mit äußerster Schärfe jede Kleinigkeit zu beschreiben und überraschende Einzelheiten zu enthüllen. Sie zieht eine Tüte Mehl heraus, dreht sie hin und her: »Seit wann hast du das?«, fragt sie.
    »Keine Ahnung«, sagt er. »Warum?«
    »Das ist vor fünf Jahren abgelaufen«, sagt Jenny. Ein Sprung geht durch ihr Gesicht, ihre Augen blitzen, es ist kein echtes Lächeln, aber fast, es erschüttert und tröstet ihn gleichzeitig.
    Ihn verblüfft auch die Vorstellung, dass eine Tüte Mehl unbemerkt seit fünf vollen Jahren in seiner Wohnung steht, wo doch die Person, die es mitgebracht hat, samt der Gründe, aus denen sie es getan hat, längst nicht mehr da ist. Er fragt sich, welche Frau sich wohl einen Kuchen oder einen Fladen oder sonst irgendeinen Gebrauch von Mehl ausgedacht hatte, dann aber aus seiner Küche und seinen Gedanken entschwunden ist. Er denkt an all die fremden Absichten, die im Lauf der Zeit in sein Leben hereingekommen, eine Weile geblieben und schließlich wieder gegangen sind, enttäuscht und zögerlich oder verärgert, Hals über Kopf. »Was sollen wir tun?«, fragt er, um sich von diesen Überlegungen loszureißen. »Neues Mehl kaufen?«
    »Wenn du willst, dass ich einen Kuchen backe, ja«, sagt Jenny. Im vorigen Jahr, als sie noch viel müheloser miteinander sprachen, hatte sie ihm erklärt, wenn sie groß sei, wolle sie Konditorin werden oder Geschichten schreiben oder vielleicht beides zusammen, Süßigkeiten herstellen, die Geschichten erzählen, oder Geschichten in die Päckchen mit den Süßigkeiten legen, etwas in der Art.
    Einen Vater mit labilem Charakter zu haben, denkt er, hat in seinen Kindern vielleicht das Bedürfnis nach Ausgeglichenheit hervorgebracht, und dadurch ist ihre Beziehung abwechselnd harmonisch oder gerät aus den Fugen, je nachdem, in welcher Phase sie sich gerade befinden. Ihm fällt auch ein, wie sehr er sie immer einbezogen hat bei allen Zweifeln oder Sorgen, die er ihretwegen hegte, da er sich weigerte und auch ihnen nicht gestattete, sich hinter einer Rolle zu verstecken, ungeachtet des Altersunterschieds und ihrer verschiedenen Lebenslagen. Sarah machte es rasend, wenn sie ihn etwa fragen hörte: »Meint ihr, dass ich ein guter Vater bin?«, obwohl sie genau wusste, dass ihn das echt interessierte. »Das kannst du doch sie nicht fragen«, zischte sie dann, in der Hoffnung, dass es die Kinder nicht hören würden, auch wenn die beiden es natürlich mitbekamen. »Das ist nicht fair von dir! Es ist einfach nur unreif!«
    Will und Jenny antworteten allerdings meistens bereitwillig auf solche Fragen und gaben ziemlich deutliche und auch harte Urteile ab, zum Glück teilweise gemildert durch ihren Humor.
    »Hättet ihr lieber einen anderen Typ Vater?«, hakte er nach, da an diesem Punkt weder er noch sie einen Rückzieher machen konnten. »Einen, der ganz anders ist, sich anders verhält? Der euch mehr Sicherheit gibt? Normaler ist?«
    Gewöhnlich verneinten sie diese oder ähnliche Fragen, weshalb er sich zwar als Vater nicht weniger verkehrt fühlte, aber es schien ihm doch wenigstens gelungen zu sein, seinen Kindern Nicht-Neutralität, Nicht-Gleichgültigkeit und Nicht-Alltäglichkeit zu vermitteln. Immerhin; doch vielleicht macht er sich auch hier etwas vor, versucht vor allem, sich selbst in ein gutes Licht zu rücken.
     
    Wenn sie bei einer Verabredung warten muss, fragt sie sich immer, warum
     
    Wenn sie bei einer Verabredung warten muss, fragt sie sich immer, warum, und ihre Zweifel erstrecken sich nach und nach auf ihr ganzes Beziehungssystem zur Welt. Allerdings hat es auch eine faszinierende Seite: Während die Minuten vergehen, tauchen unerwartete Alternativen auf, mögliche Fluchten, Begegnungen, Offenbarungen, Abenteuer, ganz überraschend tun sich parallele Horizonte auf. Dadurch ergeben sich für den, der wartet, plötzlich ganz neue Perspektiven. Jetzt zum Beispiel, nachdem sie schon beinahe zwanzig Minuten an der Ecke zum Naviglio Grande gewartet hat, wäre sie richtig froh, wenn Stefano noch eine Weile nicht käme und seine Verspätung so unverzeihlich

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