Sie und Er
würde, dass es ihr freistünde, wieder heimzugehen, um Salat mit etwas frischem Ziegenkäse und ein paar Tropfen Öl zu essen und dazu am Küchentisch ein Buch zu lesen, oder auch allein oder mit einer Freundin einen Aperitif zu trinken, frei mitten im Stimmengewirr, den Blicken und dem Hin und Her des Mailänder Juliabends.
Abgesehen davon steht sie nicht einmal so ungern hier, die fast tropische Luft ist kaum verpestet von den süßlichen Abgasen der Autos, die die Allee am ehemaligen Hafenbecken entlangfahren, wo dank der Nachlässigkeit der Stadtverwaltung im halbausgetrockneten Schlamm eine Art Sumpfdschungel wuchert. Sie lehnt sich an die steinerne Balustrade des Kanals, hält die Augen so, dass sie die Passanten beobachten kann, ohne den Blicken der Männer zu begegnen, die sie mehr oder weniger direkt anstarren, je nachdem, ob sie allein, in der Gruppe oder am Arm ihrer Frau vorbeikommen. Das ununterbrochene Defilee verschiedener Menschentypen fasziniert sie, das Zurschaustellen von Gesichtern, Armen, Schenkeln, Waden, Brüsten, Rücken, Frisuren, Bräunung, Schuhen, die leichten Kleider, die dafür gemacht sind, zu entblößen und zu betonen, die gespielt gleichgültigen Augen, die wandern, um Eindrücke zu hinterlassen oder zu sammeln. Es ist ein langsamer Fluss sich streifender Blicke und Körper, scheinbar gerechtfertigt durch die Jahreszeit, die Temperatur und die Stunde, in diesem Stadtviertel, das ein beliebter abendlicher Treffpunkt ist.
Sie setzt sich auf die Balustrade, die Handflächen auf dem ein wenig kratzenden Stein, baumelt mit den Beinen und lässt sich bezaubern von dem Menschenstrom, der sie abwechselnd amüsiert und abschreckt, ihr das Gefühl gibt, mitten im Leben zu sein oder davonlaufen zu müssen in ihren kleinen Garten mit den Olivenbäumen gleich über der ligurischen Küste. Sie fragt sich, was sie wohl täte, wenn sie wählen müsste zwischen der grenzenlosen Vielfalt von Alternativen und der Kargheit, die jedem einzelnen Element Sinn und Bedeutung verleiht; wahrscheinlich braucht sie beides, denkt sie, denn das eine gewinnt an Wert im Kontrast zum anderen. Deshalb bekommt sie Angst und wird wütend, wenn jemand versucht, sie zu einer Entscheidung zu drängen, die alle anderen Möglichkeiten ausschließt, wenn er ihr einreden will, sein Vorschlag sei das Beste und Richtigste. Sie war schon immer so, von klein auf, wenn ihre Mutter oder ihr Vater oder ihre Schwestern versuchten, ihr eine dauerhafte Rolle in der Familie zuzuweisen, wie sie es mit sich selbst und mit den anderen gemacht hatten. Lange hat sie ihr chronisches Widerstreben, sich festzulegen, als einen Fehler betrachtet, doch in letzter Zeit ist sie etwas gnädiger mit sich selbst. Ihre wiederholten Anpassungsbemühungen haben einfach nicht viel gebracht: weder, als sie mit Luigi versuchte, die brave kleinbürgerliche Ehefrau zu spielen, noch als sie bei Alberto die Rolle der Muse und Assistentin und Krankenschwester übernahm, noch als sie Stefanos Druck nachgegeben und auf ihr Leben in Ligurien verzichtet hat, um zu ihm nach Mailand zu ziehen. Immer häufiger denkt sie, dass sie lieber zu sich stehen sollte, anstatt weiter zu versuchen, sich den Welten der Männer anzupassen, die sie liebt oder zu lieben glaubt.
Dann plötzlich taucht Stefano in seinem klassischen Sommer-Freizeitoutfit aus dem Strom von Leuten auf: die Augen hinter den abgedunkelten Gläsern seiner selbsttönenden Sonnenbrille, die feinen hellen Haare ordentlich zurückgekämmt, lila T-Shirt von Lacoste, weiße Bermudas, Mokassins ohne Strümpfe. Er beugt sich zu ihr herab, küsst sie auf die Wange: »Es war kein Parkplatz hier in der Nähe zu finden, ich musste eine halbe Stunde rumfahren, um das Auto abzustellen.« Er nimmt höflich die Brille ab.
Gemeinsam schlendern sie durch die Menge, die zwischen den Ständen, wo Händler gefälschte Taschen, Gürtel und Brillen feilbieten, den Ateliers schlechter Maler und den Schildern der auf alt getrimmten Pizzerias und Trattorias herumflaniert, die Alzaia Naviglio Grande neben dem Kanal entlang. Er hakt sich bei ihr unter: »Wie war’s bei der Arbeit heute?« Er ist immer noch leicht abgehetzt, sein Atem hat eine säuerliche Note, zwar versucht sie, es nicht zu riechen, aber sie riecht es. »Gut«, antwortet sie.
»Gab’s Notfälle oder andere schwierige Situationen?«, fragt Stefano. Er setzt die Brille mit den durchsichtigen Gläsern auf, dreht sich um und mustert einen orientalischen Typen, der
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