Sie und Er
die er immer hat, wenn er ausnahmsweise früh aufsteht. Er schlüpft in seine Hose, geht in die Küche, legt eine cd mit Hawaii-Musik auf.
»Dad!«, sagt Jenny in dem großen grauen T-Shirt, das er ihr jedes Mal als Nachthemd leiht. Kaum aus dem Bett, scheint sie schon hellwach und reagiert empfindlich. Sie wühlt in den vielen cds, die sich wahllos um die Stereoanlage und auf einem Regal türmen, bewegt die Lippen, während sie die Namen auf den Hüllen liest.
»Wie zum Teufel ist es möglich, dass ihr schon wieder abreisen müsst?«, sagt er. Es gibt so viel, was sie sich nicht gefragt und erzählt haben, so viel, was sie gemeinsam hätten unternehmen können.
»Hm«, macht Jenny, noch mit ihrer Auswahl beschäftigt. Sie legt eine alte Live-cd mit electric blues von Rory Gallagher auf, für noch schläfrige Ohren eine kratzige Angelegenheit.
»Dass drei Tage so schnell vorbei sein können!«, sagt Deserti. »Ist das nicht absurd?« Wie seltsam es ist, dass seine Kinder die gleiche Musik mögen wie er, mit wenigen Ausnahmen und obwohl sie sich doch ständig verändern. Als sie klein waren, hätte er das nie vermutet. Er hatte sich vorgestellt, sie würden eine Art Ultraschallvibrationen hören wie Marsmenschen, stattdessen versuchte Jenny gestern, die Akkorde des Beatle-Songs Hey Jude auf der kleinen Gitarre zu lernen, die er ihr voriges Jahr geschenkt hat.
»Der reinste Betrug.« Jenny öffnet den Kühlschrank, um Milch und Orangensaft herauszuholen. »Einfach fies.«
»Diebe«, sagt er mit Blick auf den Kalender, der an der Wand hängt. Er blättert eine Seite zurück zum Juni, der schon eine Weile vorbei ist: ein Farbdruck mit Rambutan-Früchten und einem verschwommenen Leoparden, der auf einem Ast balanciert. Dann geht er wieder zum Juli, der schon fast vorbei ist, blickt auf das Ankunfts- und Abreisedatum der Kinder und den roten Filzstiftstrich, der ihre schon vergangenen gemeinsamen Tage einrahmt. Das Jammern über die gestohlene Zeit ist eines ihrer Lieblingsspiele, aber die Bestürzung, die er jedes Mal empfindet, ist nur zu echt, so wie der Schmerz über die unvermeidliche Trennung.
»Halunken«, sagt Will von der Tür her mit seinem leicht ausländischen Akzent, die Haare zerzaust, die Augen schläfrig, als hätte er gern noch stundenlang weitergeschlafen. Doch er lacht, in Gedanken mindestens zum Teil schon wieder in England, bei einem Treffen mit Freunden oder vielleicht auch mit einem Mädchen.
»Ich komme gleich wieder, nichts anrühren.« Leichtfüßig entschwindet Jenny ins Bad.
Deserti stellt die Musik leiser, denkt an die Zeit, die Sekunde für Sekunde vergeht, ohne dass einer von ihnen etwas dagegen tun kann. Es dreht sich natürlich nicht nur um jetzt, sondern um alle Trennungen, die es gegeben hat, seit er aus England weggegangen ist, und die es in Zukunft geben wird, jedes Mal wenn sie sich an dem einen oder anderen Ort wiedersehen.
Jenny kommt zurück, mit nassem Gesicht und nassen Haaren, in einer Wolke von Bitterorangenessenz, die sie wohl auf dem Regal im Bad gefunden hat, ein Geschenk, das ihm irgendeine Frau irgendwann mal gemacht haben muss. »He«, sagt sie, »ich habe gesagt, dass ich das Frühstück mache!«
»Bitte sehr, Frau Konditor!«, triezt Will sie, wie er es als großer Bruder gerne mal tut. Er stibitzt einen Keks aus einer Packung, schiebt ihn in den Mund und geht seinerseits ins Bad.
Jenny hantiert mit Töpfen und Töpfchen, erhitzt Milch und überbrüht den Malzkaffee und macht auch eine große Tasse gefriergetrockneten Kaffee, den ihr Vater gern trinkt, seit er in Amerika war. Jede Handbewegung sitzt, ist geübt wie bei einem kleinen Profi.
Deserti fragt sich, ob ihre Leidenschaft für Kuchen und Torten nur die flüchtige Schwärmerei einer Zwölfjährigen ist oder ob dank ihrer Begabungen wirklich etwas daraus entsteht, das sie langfristig weiterentwickelt und verfolgt.
»Es ist grässlich, dass man uns so die Zeit stehlen kann«, sagt er, obwohl das Spiel allmählich ausgereizt ist. »Ohne Rücksicht auf Verluste.«
Jenny nickt ernst. Sie holt die Gläser mit Blaubeer-, Himbeer- und Aprikosenmarmelade aus dem Kühlschrank, die sie vor drei Tagen zusammen gekauft haben, als sie noch meinten, viel Zeit für intensive gemeinsame Erlebnisse vor sich zu haben.
»Drei Tage sind einfach nichts«, sagt er, obgleich ihm bewusst ist, dass er ihre Trennungen nicht jedes Mal so dramatisch aufbauschen dürfte, darauf hat Sarah ihn schon öfter hingewiesen. »Da
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