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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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winzige Megaphone verkauft.
    »Ein widerlicher Versicherter hatte einen Unfall auf Malta«, sagt sie. »Er hat einen Obststand umgefahren, der Verkäufer musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, und der Typ behauptete, er sei im Recht, weil die Fahrbahn in schlechtem Zustand sei.«
    »Wie ist die Sache ausgegangen?«, fragt Stefano, während er den Blick weiterschweifen lässt.
    »Die Polizei sagt, dass er viel zu schnell fuhr«, antwortet sie. »Er hat kein bisschen recht.«
    »Ach ja?«, sagt Stefano, die Augen starr auf den Hintern einer gebleichten Blondine in einem kurzen schwarzen Kleid gerichtet, das ihre supergebräunten und von Creme glänzenden Schenkel und Waden dem Blick freigibt.
    Sie nickt, ihrerseits abgelenkt von dem doppelten Strom von Menschen, die sich streifen wie in einem langen Bassin hin und her schwimmende Zuchtfische. Sie fragt sich, ob es bei einem gefestigten Paar nach einer Weile unweigerlich so kommen muss: bruchstückhafter Informationsaustausch, schwankende Aufmerksamkeit, automatische Sätze, Blicke, die in Sekundenschnelle bekannte Einzelheiten aufnehmen. Sie fragt sich, ob ihre Träume von ständiger Innigkeit und glühendem Austausch und bleibender Fähigkeit, sich gegenseitig zu überraschen, einfach nicht realistisch sind, sondern bloß unreif und unbegründet. Mit Alberto hat sie manchmal Augenblicke großer emotionaler Nähe erlebt, aber nur vorübergehend und immer um den Preis, sich anschließend todunglücklich zu fühlen. Vielleicht liegen die Gründe, aus denen sie sich auf Stefano eingelassen hat, genau darin: in der fehlenden Sprunghaftigkeit, die sie sofort herausspürte, in der Quasi-Unveränderlichkeit seiner Ansichten, in der Konsequenz seines Verhaltens.
    Auch jetzt zum Beispiel könnte sie jede seiner Bewegungen vorhersagen, wie er sich von ihr löst und zwischen den Tischchen vor dem Pseudobistro an der steinernen Brücke auf Lauretta und Tommaso zugeht, die schon dort sitzen. Er umarmt sie, und sein mimisches und gestisches Repertoire stimmt vollkommen mit der Umgebung überein, genauso wie sein Blick, sein Lächeln und seine Kleidung - da ist kein einziger Misston. »Hallo«, sagt er; in seiner Stimme klingen keine Kanten oder Brüche an. Als er sich umdreht und sie anschaut, haben seine lombardischen Augen die Farbe von Flusswasser.
    Sie umarmt Tommaso und Lauretta ebenfalls, ohne dass es ihr gelingt, echte Wärme in dieses kleine gesellschaftliche Ritual zu legen. Die italienische Angewohnheit, auch unter einfachen Bekannten Umarmungen und Küsse auszutauschen, macht sie immer noch leicht verlegen, sie hat sich nie ganz daran gewöhnt. Anfangs hielt sie es für ein Zeichen mediterraner Herzlichkeit und Offenheit, doch mit der Zeit dachte sie, dass man letztlich nur die Menschen umarmen und küssen sollte, mit denen einen echte Zuneigung verbindet, da diese wahllose Umarmerei sonst leicht zu einer nervtötenden Pantomime verkommt, die innerhalb von zwei Sekunden Gefühle weckt und gleich wieder verschwinden lässt. Meistens würde ihr ein Händedruck genügen oder auch ein einfaches Handheben, wie es in den usa üblich ist.
    Allerdings hat Stefano viel mehr Grund als sie, seine Freunde zu umarmen und zu küssen, denn Tommaso kennt er seit der gemeinsamen Zeit auf dem Gymnasium, und mit Lauretta hatte er eine Beziehung, Jahre bevor sie Tommaso heiratete. Wenn man sie so ansieht, könnten sie alle drei Schulkameraden sein, wie sie da zwischen der Balustrade des Kanals und dem ununterbrochenen Strom von schaulustigen Spaziergängern unter dem weißen Sonnensegel am Tisch sitzen und sich scherzhafte Anspielungen zuwerfen, sich necken und lachen. Am Anfang ihrer Zeit in Mailand erregten solche Situationen ihre anthropologische Neugier, weil sie die Sitten und Gebräuche der Bewohner des Ortes offenbarten; jetzt merkt sie dabei vor allem, dass sie nicht den vollständigen Code beherrscht, um jeden Schlagabtausch zu entschlüsseln. Wieder scheint ihr, als habe sie im Vergleich zu ihnen die falsche Frisur, die falschen Kleider, ja sogar das falsche Gesicht: Ihr ist, als könnte das jeder sehen, selbst der zerstreuteste der vielen Menschen, die im Vorüberschlendern schleimige Blickspuren hinterlassen.
    Die zwei Männer brauchen ein paar Minuten, bis sie sich auf einen Wein geeinigt haben, dann bringt der singhalesische Kellner eine Flasche Lagrein, entkorkt sie gekonnt, gießt Stefano einen Finger hoch ein, der probiert einen Schluck, bewegt ihn im Mund hin und her

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