Sie und Er
Kühlschrank, blickt erneut auf die Wodkaflasche, macht ihn mit größter Anstrengung wieder zu. Er fragt sich, ob seine Fehler bei seinen Kindern zum Ausgleich wohl entsprechende Qualitäten hervorgebracht haben; ob sie dadurch letztendlich besser gerüstet sind, um in der Welt zu bestehen. Er fragt sich, ob er ein Alibi sucht, um weniger Schuldgefühle zu haben; ob es irgendwo einen echt guten Vater gibt. Er ist noch nie einem begegnet, das ist sicher, weder als Sohn noch als erwachsener Mann, der in der Welt herumkommt und sich umsieht.
Jenny gießt Milchschaum in die Tassen mit Malzkaffee und Pulverkaffee: »Es ist alles fertig.«
Sie setzen sich auf die drei Hocker rund um die Küchentheke und versuchen, sich auf dieses letzte gemeinsame Frühstück zu konzentrieren, während ihre Gedanken in tausend unterschiedliche Richtungen eilen, auf geraden und krummen Wegen, von Gewinn zu Verlust und wieder zurück.
Matildes emotionales Gleichgewicht ist allmählich genauso prekär wie ihre Arbeit
Matildes emotionales Gleichgewicht ist allmählich genauso prekär wie ihre Arbeit: Als Clare nach dem Joggen leise die Küche betritt, um zu frühstücken, findet sie sie zusammengesunken auf einem Stuhl, in Unterhöschen und T-Shirt, eine Zigarette in der Hand, in Tränen aufgelöst.
»Hey, alles in Ordnung?«, fragt Clare. Sie geht zu ihr, aber nicht so nah, dass sie ihre Privatsphäre verletzt. Sie hatte schon immer ein ausgeprägtes Gefühl für Abstand: Ihr Vater fand, sie sei sensibel wie ein Katzenmensch, und die Katzenmenschen bildeten eine kleine Minderheit gegenüber den Hundemenschen, die oft ohne die geringste Zurückhaltung auf andere losgehen.
Matilde schüttelt den Kopf: »Mein Job ist das Fliegen und nicht, am Boden zu bleiben wie eine Gepäckfrau, das ist der Punkt!«
»Das kann ich verstehen.« Clare ist ehrlich betrübt.
Matilde starrt sie an, als würde sie die Gründe für diese Anteilnahme nicht begreifen: »Was hast du?«
»Nichts, ich höre dir nur zu«, sagt Clare.
»Gehst du arbeiten?« Offensichtlich ist Matilde diese Bekundung selbstloser Gefühle unangenehm. Sie zieht an ihrer Zigarette, hustet, kratzt sich innen am Schenkel: Scratch, Scratch, Scratch.
»Nein«, erwidert Clare. »Ich habe zwei Tage frei.« Sie gießt sich Wasser ein aus der Plastikkanne, deren Filterkartusche seit mindestens zwei Wochen ausgewechselt werden müsste, wenn sie bloß endlich mal eine neue kaufen würden. Beim Gedanken an die zwei freien Tage bekommt sie Lust auszureißen, Herz und Beine beginnen unruhig zu zucken.
Die Sommerhitze nimmt immer noch zu, obwohl das kaum möglich scheint: Durch das geöffnete Fenster, dessen staubiger Rollladen zu einem Drittel heruntergelassen ist, dringen tropische Luft und Benzingeruch herein, Stimmen, die in einer nordafrikanischen Sprache streiten oder diskutieren, Motorengeräusche, das Kläffen eines kleinen Hundes. Im ersten Stock eines solchen Hauses zu wohnen ist fast, als lebte man auf der Straße, kaum geschützt durch ein paar Zentimeter Backstein und Zement.
Ihr Handy klingelt, man hört aus dem Flur den kleinen schrillen Gitarrenriff. Sie nickt Matilde zu und zieht sich dann in ihr Zimmer zurück, um zu antworten.
»Hallo«, sagt Stefano am anderen Ende.
»Hallo«, erwidert sie. Sich seiner Ausdrucksweise anzugleichen ist Teil ihrer Anpassungsbemühungen, auch wenn es sie in letzter Zeit immer größere Mühe kostet.
»Vorher bist du nicht drangegangen«, beschwert sich Stefano. »Ich habe es mindestens vier Mal probiert.«
»Ich war draußen«, sagt sie. Sie wirft einen raschen Blick auf die »Anrufe in Abwesenheit« und sieht, dass es stimmt; es kommt ihr albern vor, dass sie ihr Jogging geheimhalten muss, als würde sie ihn betrügen.
»Wieso draußen?«, will er wissen.
»Ich war joggen«, sagt sie schließlich. »Ich bin früh aufgewacht.«
»Und konntest du nicht das Handy mitnehmen?« Jetzt, da er es weiß, ist Stefano doppelt sauer. »Ist es so schwer, daran zu denken?« Er ärgert sich nicht zum ersten Mal darüber, fast, als bestünde eine direkte Verbindung zwischen ihrer telefonischen Erreichbarkeit und der Qualität ihrer Beziehung.
»Es stört mich beim Laufen«, sagt sie. Doch ihr fällt ein, dass sie in der ersten Zeit, als sie zusammen waren, nicht nur das Handy immer dabeihatte, sondern auch alle zehn Minuten die Aufladung und den Empfang kontrollierte aus Angst, der unsichtbare Faden, der sie verband, könnte reißen.
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