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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Wahrscheinlich deutet Stefano ihre Unlust, das Handy mitzunehmen, durchaus richtig.
    »Jedenfalls wollte ich dir sagen, dass wir heute Abend bei Tom und Lauretta zum Essen eingeladen sind«, sagt er. »Und morgen Mittag bei meiner Mutter.«
    »Ich kann nicht«, rutscht es ihr unwillkürlich heraus, schneller als jeder ausformulierte Gedanke; sie ist selbst verblüfft über diesen Reflex.
    »Wie, du kannst nicht?« Stefano wirkt bestürzt.
    »Ich muss nach Ligurien.« Sie staunt, wie folgerichtig sich ihre Worte ganz von allein aneinanderreihen. »Es hat einen Rohrbruch gegeben, der Garten ist schon halb überschwemmt.«
    »Und woher weißt du das?«, fragt Stefano, ganz irritiert, dass gleich zwei Pläne auf einmal ins Wasser fallen.
    »Vor ein paar Minuten hat mich der Nachbar angerufen«, antwortet sie. »Ich muss mich beeilen.«
    »Jetzt?«, sagt Stefano. »Einfach so?«
    »Ja«, sagt sie. Je länger das Gespräch andauert, umso unvorstellbarer kommt es ihr vor, je gedacht zu haben, dass sie in Mailand bleiben könnte. »Ich muss zum Bahnhof sausen, sonst verpasse ich den Zug.«
    »Ja sag mal, und wolltest du mir gar nicht Bescheid geben?«, fragt Stefano.
    »In einer Minute hätte ich dich angerufen«, sagt sie. »Tut mir leid.«
    »Tom und Lauretta tut es bestimmt auch leid.« Stefano klingt bitter enttäuscht. »Und meiner Mutter. Und mir.«
    »Ich weiß nicht, was ich machen soll.« Sie versucht, nichts von ihrer wachsenden Ungeduld durchsickern zu lassen.
    »Du könntest die verdammte Bruchbude endlich verkaufen!«, sagt Stefano aufbrausend. »So einfach! Du hast doch sowieso nur Probleme damit, ich begreife nicht, warum du so stur daran festhältst! Das hat doch überhaupt keinen Sinn!«
    »Wir reden ein andermal drüber, ja?«, sagt sie. »Natürlich, ein andermal«, erwidert er. »Ich muss mich jetzt beeilen«, sagt sie. »Ciao.«
    »Ciao«, sagt Stefano und legt auf.
    »Ciao«, sagt sie noch einmal in die stumme Leitung, dann schiebt sie das Handy in die Hosentasche. Sie nimmt zwei T-Shirts, zwei Höschen und einen leichten Rock aus dem kleinen Schrank aus Stoff und Holz, den sie in einem Fair-Trade-Laden gekauft hat, wirft die Sachen aufs Bett, rollt sie zusammen, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte, damit sie nicht knittern, und stopft sie in den kleinen Rucksack.
    Sie verabschiedet sich von Matilde, die immer noch in der Küche sitzt, raucht und ins Leere starrt, durchquert rasch den Flur, verlässt die Wohnung, springt die Treppe hinunter, plötzlich froh darüber, wie leicht auf Gedanken Taten folgen können, wenn man es nur will.
    In der U-Bahn überlegt sie, was ihre spontane Reaktion auf Stefanos Anruf bedeutet: Auflehnung gegen Zwangsveranstaltungen, Angst vor langfristigen Verpflichtungen, Langeweile, Gereiztheit oder was? Sie fragt sich, ob ihr Verhalten ein Zeichen von Unreife oder von Unabhängigkeit ist und warum sie sich jetzt zwar schuldig, aber auch viel freier fühlt als vor dem Telefonat. Schließlich tut sie ja niemandem weh, denkt sie, und das Häuschen in San Minimo muss ein bisschen in Schuss gehalten werden, die Idee, zwei Tage weit weg von der Stadt zu sein, erfüllt sie mit zunehmender Freude.
    Die Stazione Centrale ist jahrelang für wahrscheinlich sehr viel Geld umgebaut worden, aber das Ergebnis ist ein Pfusch und in mancher Hinsicht absurd: seitliche Rolltreppen, die die Wege verlängern, anstatt sie zu verkürzen, schwer zu verstehende Routen, Geschäfte wie unterirdische Höhlen, durchsichtige Trennwände, die schon stumpf sind. Sie holt sich ihre Fahrkarte an einem der Automaten, nachdem sie eine Weile Schlange gestanden hat hinter aufgeregten Reisenden, die ihn nicht bedienen können, und geht dann zur Zugebene hinauf. Mehrere Touristen irren mit ihren riesigen Rollenkoffern durch Korridore, die im Nichts enden, wechseln zwei- oder dreimal hintereinander die Richtung. Sie ist froh, dass sie nur ihren kleinen Rucksack dabeihat; ihr scheint, dass sie endlich die Kunst des leichten Reisens beherrscht. Bei dem Gedanken, dass sie früher für Situationen und Notfälle, die dann nie eintraten, stets eine Menge Zeug mitschleppte, auch wenn sie nur ein paar Tage unterwegs sein wollte, muss sie lachen.
    Auf der oberen Ebene schaut sie zu der Anzeigetafel hinauf, wo das Abfahrtsgleis und der Zielort angegeben sein müssten, aber da ist nichts zu sehen. Gruppen von Leuten stehen wartend und mit gerecktem Hals davor. Es missfällt ihr nicht, Zeit zu haben, um die anderen Reisenden

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