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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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seinen Kindern im Kaufhaus steht. Die Bilder überlagern sich in ihrem Kopf, wecken zwiespältige, schwer zu bestimmende Gefühle.
    Die Temperatur im Waggon steigt mit jedem Kilometer; sie steht auf und versucht das Fenster zu öffnen, aber ein Herr, der zwei Plätze weiter sitzt, erklärt ihr, es sei verriegelt. Alle Passagiere leiden. Die Dame mit der Perlenkette gegenüber fächelt sich mit einer zusammengefalteten Zeitung Luft zu, während sie in voller Lautstärke weitertelefoniert, ein magerer Typ steht auf und geht gestikulierend im Korridor auf und ab, ein Kind quengelt unentwegt, und seine Mutter sagt immer wieder: »Giorgio, hör auf, du machst es nur noch schlimmer.« Irgendwann kommt eine dicke junge Frau in Eisenbahneruniform, auch sie verschwitzt und hochrot im Gesicht, und wird von den Passagieren mit Beschwerden überschüttet. Sie murmelt etwas und breitet zum Zeichen ihrer Ohnmacht die Arme aus, stürzt dann davon, ohne die Fahrkarten zu kontrollieren, weiter in einen anderen Wagen, wo sie gewiss die gleichen Vorwürfe erwarten.
    Um das Erstickungsgefühl zu mildern, macht Clare einige gedankliche Übungen, die ihr Vater ihr und ihren Schwestern beigebracht hat: Sie versucht, den Waggon aus wachsender Distanz zu sehen, verringert die Empfindlichkeit der Wärmerezeptoren der Haut. Sie hat einige Zeit gebraucht, um die pragmatische Verbindung von Philosophie, Meditation und Kampfsportarten, die Jack Moletto nach jahrelanger Lehrzeit und Berufstätigkeit in asiatischen Ländern entwickelt hatte, im richtigen Licht zu sehen. Als Kind kam es ihr wie ein Spiel vor, Überlebenstechniken zu lernen, als junges Mädchen wie die Folge einer Besessenheit, die sie gern abgelegt hätte; jetzt denkt sie einfach, dass es zu den Dingen gehört, die ihr Vater ihr weitergegeben hat, so wie die Linie der Augenbrauen und die Augenfarbe, den Eigensinn, den Humor. Es gibt einige Kernpunkte, die ihr in Momenten wie diesem wieder einfallen: wie wichtig es ist, in einer Situation zu sein und gleichzeitig nicht darin kleben zu bleiben; stets bereit zu sein, die Anker zu lichten, zumindest im Geist, wenn es körperlich nicht möglich ist.
    Sie betrachtet die Landschaft, die vor dem Fenster vorbeizieht, atmet eine winzige Menge Luft durch die Nase ein, strafft den Rücken, streckt die Beine, entfernt sich gedanklich von der Hitze. Sie schlägt Daniel Desertis Buch auf, beginnt zu lesen. Bei den ersten Seiten hat sie die gleichen Empfindungen wie in dem Moment, als sie in den alten Jaguar hineingeschaut und Deserti in die Augen gesehen hat: Anziehung, Angst, den Wunsch, mehr zu erfahren. Es ist ein Roman, der als Essay daherkommt, oder ein Essay mit ständigen romanhaften Einschüben, der aus reflexiven Passagen, Unterbrechungen im Erzählfluss, Streifzügen in die Gebiete der Geschichte, der Anthropologie und der Verhaltenswissenschaften besteht. Die Hauptfigur ist ein Mann, der mehrere Liebesbeziehungen hat, aber an keine davon glaubt, und anstatt sie zu beenden, ständig weitere eingeht. Der Stil ist elegant, präzis, doch kommt es ihr vor, als wolle die Erzählerstimme die Leser eifersüchtig und die Leserinnen wütend machen, ihre Gedanken und Einstellungen sind eine einzige Provokation zwischen den Zeilen. Dennoch drängt irgendetwas sie zum Weiterlesen, Seite für Seite ohne aufzublicken, die Hitze, die stickige Luft und das Gejammer der Mitreisenden nimmt sie gar nicht mehr wahr.
    Am Bahnhof Tortona steigen zwei Typen im Overall vom Zivilschutz ein und verteilen Halbliterflaschen Mineralwasser. Sie streckt die Hand aus, nimmt eine, trinkt ein paar Schlucke und liest weiter. Das Buch ist von Ernüchterung geprägt, aber nicht zynisch, die Trostlosigkeit wird ab und zu schwungvoll aufgelockert, die Desillusionierung ist im Widerstreit mit einer träumerischen Romantik. Sie empfindet rasch abwechselnd Empörung, Wut und Bewunderung; an manchen Stellen möchte sie aufhören und das Buch wegwerfen, aber sie tut es nicht.
    Draußen auf dem Bahnsteig umlagern einige ausgestiegene Passagiere den Bahnhofsvorsteher, der nickt und hilflos herumfuchtelt. Es sieht aus, als gebe es einen Versuch, die Geleise zu blockieren, doch am Ende steigen alle wieder ein, und der Zug fährt wieder an. Clare liest weiter in Daniel Desertis Buch, ohne aufzuschauen. Zwischendurch fragt sie sich, ob die Aufmerksamkeit, die sie Seite für Seite vorantreibt, von dem Buch abhängt oder davon, dass sie den Autor kennt, oder von dem Bedürfnis, nicht an

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