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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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die unerträgliche Hitze im Zug zu denken, an Stefano und seine Mutter und Tommaso und Lauretta, die sie mit ihrem Spontantrip enttäuscht hat.
    Als der Zug in Genua hält, ist sie auf Seite 97 angekommen. Sie liest auch weiter, während sie auf einer Betonbank unter einem Dach, das sie vor der Sonne, aber nicht vor der Hitze schützt, auf den Anschluss wartet, und im Regionalzug, dessen Fenster zum Glück offen sind und die Meeresluft hereinlassen.
    In Rapallo holt sie beim Mechaniker ihren Motorroller ab, den sie dort abgegeben hatte, um die Zündung reparieren zu lassen. Der Mechaniker heißt Fabio, ist klein und stämmig und flirtet immer ein bisschen mit ihr, halb scherzhaft und halb im Ernst. Er zeigt ihr, dass der Motor jetzt sofort anspringt, klopft zufrieden mit einer Hand auf den Sitz. Wie jedes Mal muss sie darauf bestehen zu bezahlen, sie lacht, setzt den Helm auf und fährt los im sommerlichen Verkehr von Autos, Lastwagen und Motorrädern. Unterwegs hält sie bei dem Lebensmittelgeschäft, kauft zwei Stücke Focaccia mit Olivenöl und drei weiße Pfirsiche, fährt weiter Richtung Hügel. Sie biegt in die schmale Straße ein, die zwischen Stellplätzen für alte Wohnwagen und Lagern für Baumaterialen hindurchführt, überquert den kleinen Fluss, wo sie oft die Enten mit Brot füttert, fährt vorbei an dem Zaun mit den Baggern, vorbei an dem Parkplatz der Müllautos, vorbei an der Jagdhundeschule, vorbei an dem Rohrlager, vorbei an der ewigen Baustelle für eine kleine Brücke, die wer weiß wohin führen sollte. Endlich beginnen rechts die Terrassen mit den Ölbäumen, links steht die alte Mühle, umgebaut zu einem Restaurant, das immer leer ist; dann erst erreicht sie die enge, steile Rampe, die zu ihrem Haus führt.
    Das Vorhängeschloss, das die Kette am Tor zusammenhält, ist verrostet, sie muss hartnäckig drehen und zerren, bis es aufgeht. Der kleine Garten ist noch stärker verwildert als vor einem Monat, als sie sich ein paar Tage hier geleistet hatte. Das hohe Gras, die Zitronenbäumchen und die jungen Pfirsich- und Kirschbäume haben ziemlich unter dem Wassermangel gelitten. Den Olivenbäumen dagegen geht es gut, wie auch den Agaven und den Kakteen, die Alberto überall gepflanzt hat, ohne im Geringsten zu bedenken, dass sie ja noch wachsen. Auch hier ist es heiß, doch die Luft ist frischer als unten und tausendmal sauberer und duftender als in Mailand. Rundherum kreischen die Zikaden, der ganze Hügel vibriert in ihrem Rhythmus.
    Sie stellt den Roller auf den Ständer, schaut nach den verschiedenen, noch von ihrem Vater angelegten Winkeln, die sie erhalten und manchmal verbessert hat, ohne ihren Geist zu verfälschen: die zwischen zwei Olivenbäumen gespannte Hängematte, das Bistrotischchen mit zwei Stühlen vom Schrottplatz eines französischen Dorfes, der Tisch unter der Pergola aus getrocknetem Schilfrohr und wildem Wein, die lange, inzwischen wackelige Bank. Jedes Mal macht sie bei der Ankunft diesen raschen Erkundungsgang, wie um den Kontakt zur Basis wiederherzustellen, ihr grundsätzliches Gleichgewicht wiederzufinden. Zwei Katzen überqueren eilig den Rasen, sausen die steinerne Treppe hinauf, laufen den gepflasterten Weg vor dem Haus entlang. Sie zieht die Schuhe aus und folgt ihnen mit leichten Schritten. Es ist herrlich, das Gras unter den Füßen zu spüren und so viel Platz rundherum zu haben, sie kann es kaum fassen, dass sie wie durch ein Wunder dem Räderwerk der konstruierten, automatisierten Welt entronnen ist.
    Im Haus ist es im Vergleich zu draußen beinahe kühl. Sie macht die zwei Türflügel weit auf, öffnet im kleinen Wohnzimmer die Fensterläden; der feine weiße Baumwollvorhang leuchtet im warmen Licht. Über die kleine steile Schiefertreppe steigt sie ins obere Stockwerk hinauf, schiebt die Tür zum Bad auf, zieht die von der Zugfahrt verschwitzten Kleider aus und lässt sie zu Boden fallen. Sie stellt sich unter die kalte Dusche, reibt sich mit dem Handtuch ab, während sie im Schlafzimmer hin und her geht, und schlüpft dann in den mitgebrachten leichten Rock und ein dünnes T-Shirt. Sie schaut aus dem Fenster, genießt die Aussicht auf die grünen Hügel, hinter denen sich das Meer verbirgt. Sie fühlt sich frei, ein wenig verloren, von Gedanken erfasst, die schwer aufzuhalten sind. Es ist, als ob sie Hunger hätte, aber nicht direkt, als ob sie auf ein Geräusch wartete, aber nicht sagen könnte, welches.
    In der Küche holt sie die Focaccia aus der

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