Sie und Er
mit zu dicken Stielen, und auch ihr gefällt die Idee, kein Benzin zu brauchen und keinen Lärm, keine Abgase und keinen Geruch zu produzieren. Gras zu mähen gibt ihr ein Gefühl von Harmonie, von vorübergehend wiederhergestellter Ordnung in dem kleinen Ausschnitt der Welt, den sie vor sich hat. Sie geht hin und her, Bahn um Bahn wird das Grün heller; die Wiese wird wieder zum Rasen, auch wenn er etwas trocken und unregelmäßig ist. Zentimeter um Zentimeter arbeitet sie sich vor, mit viel Anstrengung und Aufmerksamkeit, der Schweiß läuft ihr über die Stirn, macht Achselhöhlen und Schenkelansatz nass, tränkt das T-Shirt und den noch vom Meer feuchten Badeanzug. Als sie mit dem Rasenmähen fertig ist, nimmt sie die Sichel und schneidet die stehengebliebenen Büschel ab, zack, zack, zack, mit gezielten Schnitten parallel zum Boden, wie Mauro, der Bauer, der in dem Haus weiter drüben wohnte, es ihr beigebracht hat. Das ist die körperliche Dimension, die ihr in der Stadt fehlt, egal wie viel sie joggt und turnt: der Kontakt mit der Erde, die Freiheit, halb nackt herumzulaufen und ihren Bewegungsdrang nicht bremsen zu müssen.
Dann reißt sie sich ihre klatschnassen Sachen vom Leib, stellt sich unter die Freiluftdusche im hintersten Winkel des Gartens, wo das Wasser erst kochend, dann immer kälter aus der erhitzten Leitung kommt, wäscht Schweiß und Salz und Schmutz ab. Dann wickelt sie sich ein Handtuch um die Taille, geht in die Küche, um einen Pfirsich zu essen, und greift wieder zu dem Buch von Daniel Deserti. Lesend geht sie von einer Stelle zur anderen, um die seltsame Unruhe auszugleichen, die sie immer noch umtreibt: vom Hocker zum Sofa in dem kleinen Wohnzimmer bis an den Bettrand oben im Schlafzimmer und zu dem Mäuerchen vor dem Haus, während die Hitze allmählich nachlässt und auch die Zikaden stiller werden.
Als die Sonne hinter den Hügeln versinkt, ist Clare auf der letzten Seite angekommen; ratlos bleibt sie einige Minuten mit dem Buch in der Hand stehen. Es gibt keine Auflösung am Ende wie in einem klassischen Roman, auch keinen unkonventionellen Schluss, wie man ihn bei dieser Zwitterform eines zeitgenössischen Romans erwarten könnte. Die Geschichte, die gar keine richtige Geschichte ist, bricht einfach ab, mitten in einer Überlegung des Protagonisten und Alter Egos des Autors, so als hätte jemand die letzten Seiten herausgetrennt. Sie sieht nach, ob das womöglich stimmt, aber die Seiten sind alle da, und es ist klar, dass einzig Daniel Deserti für das schroffe Ende verantwortlich ist. Empört schleudert sie das Buch durch den Garten, sieht zu, wie es zwischen den Blättern eines Zitronenbaums herunterfällt. Gleich danach geht sie hin und hebt es wieder auf, aber ihr scheint, nur ein sehr eingebildeter Mann könne verlangen, dass ein Leser über fast zweihundertfünfzig Seiten seinen Denkansätzen folgt, sie nachvollzieht und ihnen zumindest teilweise zustimmt, um dann plötzlich so vor den Kopf gestoßen zu werden. Das ist unzumutbar, findet sie, es erfüllt ihr Bedürfnis nicht, so wenig wie das Wasser ihren Durst gestillt und die Arbeit im Garten ihren Bewegungsdrang befriedigt hat.
Morgens um neun zeigt das Thermometer neben dem Fenster schon dreißig Grad
Morgens um neun zeigt das Thermometer neben dem Fenster schon dreißig Grad an; ohne Klimaanlage wäre diese Wohnung im Sommer völlig unbewohnbar. Deserti schaltet sie mit der Fernbedienung ein, schließt halb die Augen in dem nach und nach kälter werdenden Luftstrom, obwohl er sich gleichzeitig auch schämt, dass er ein so mieses, umweltschädliches Gerät benutzt. Eigentlich müsste er sich solche Gedanken verbieten, denn unweigerlich folgt daraus ein Rattenschwanz an Überlegungen über die Kluft zwischen dem, was er sagt, und dem, was er tut, zwischen dem, was er gern wäre, und dem, was er ist.
Dass er gestern Abend zugestimmt hat, als Miriam Lovati ihn besuchen wollte, ist ein weiteres gutes Beispiel für seine Inkonsequenz und ein Beweis seiner Neigung, den gleichen Fehler mehrfach zu wiederholen. Sie haben sich kennengelernt, als er sich an das Immobilienbüro wandte, für das sie arbeitet, weil er erwog, die Wohnung in Mailand zu verkaufen und nach England zu ziehen, um näher bei seinen Kindern zu sein. Doch dann war die Idee verpufft, er war in dem Büro vorbeigegangen, um ihr das mitzuteilen und sich zu entschuldigen, und schließlich hatte er sie ins Restaurant zum Abendessen eingeladen, eher aus
Weitere Kostenlose Bücher