Sie und Er
zu betrachten, Einzelheiten ihrer Kleidung und ihres Verhaltens zu registrieren, zu überlegen, was wohl dahintersteckt. Schon immer überkommt sie auf Bahnhöfen eine seltsame Mischung aus Erregung und Nervosität und Zerstreutheit, die ebenso widersprüchlich ist wie erst die unvermeidliche Hetze und dann die toten Zeiten vor der Abfahrt, das erneute Gerenne, das lange Sitzen auf der Reise.
Endlich erscheinen auf der Tafel die Gleisnummern; die Reisenden stürzen mit ihrem Gepäck zu den Bahnsteigen. Clare läuft durch das Gewühl von Personen und Koffern und Elektrowagen und Bildern auf den Fernsehern längs der Gleise, springt in ihren Zug. Er ist alt und schmutzig, schwarzer Staub klebt in den Ritzen, es stinkt nach Minestrone und Kloake. Sie geht durch einige Waggons, bis sie einen Fensterplatz findet, legt ihren Rucksack auf die Ablage, lässt sich auf dem Sitz mit den müden Sprungfedern nieder, beobachtet die anderen Reisenden, die hastig die übrigen Plätze besetzen. Dann schaut sie durch die von undefinierbaren Flüssigkeiten verschmierten Scheiben, minutenlang, im summenden und klopfenden Stillstand. Die Hitze ist noch ärger als draußen, weil die Fenster nicht aufgehen und die Reisenden schwitzen, und die Sitzpolster tun ein Übriges. Sie möchte nur eines: dass der Zug losfährt. Irgendwann meint sie, er setze sich in Bewegung, aber es ist eine Täuschung: Ein anderer Zug fährt in der Gegenrichtung ein. Sie hat das Zugfahren erst als Erwachsene in Italien entdeckt, denn in den Vereinigten Staaten war sie nie mit dem Zug unterwegs gewesen. Als Kind hatte sie manchmal Güterzüge gesehen, dann dachte sie immer an die Songs von Onkel Harry, in denen sich Landstreicher für endlose Überlandfahrten in den dunklen Ecken der Wagen versteckten.
Ein Ruck geht durch den Zug, jetzt bewegt er sich tatsächlich, die alten Säulen, die Bögen und Streben aus verschraubtem Eisen gleiten langsam vorbei. Sie lehnt sich zurück, ihr fällt ein, wie ihre erste Zugreise von Rom nach Florenz sie mit intensiven literarischen Emotionen erfüllt hatte: Sie war sich vorgekommen wie die Heldin eines Romans aus dem 19. Jahrhundert, dessen Handlung bestimmt wurde von romantischen oder schrecklichen Empfindungen, stimmungsvollen Landschaften, die man durchqueren musste, unerwarteten, schicksalhaften Begegnungen.
Eine Dame mit Perlenkette im tiefen Ausschnitt, der eine runzelige orangerote Haut zur Schau stellt, sagt etwas zu ihr, doch Clare sieht nur, wie sich ihre Lippen bewegen, ohne die Worte zu hören.
»Gehört das Ihnen?«, sagt die Dame, als Clare endlich in der Lage ist zu verstehen. Sie deutet auf ein Taschenbuch, das in der Ritze zwischen den Sitzen steckt, als wäre es ein potentiell verseuchter Gegenstand.
Clare schüttelt den Kopf, doch gleich darauf beugt sie sich vor und zieht es heraus. Auf dem Umschlag sieht man ein impressionistisches Schlafzimmer, der Titel Falscher Schritt ist rot gedruckt, darüber in grauer Schrift der Name des Autors: Daniel Deserti. Vor Überraschung lässt sie es fallen.
Die Dame ihr gegenüber schaut sie an, als hätte sie nun den Beweis, dass ihr Verdacht begründet war. Ihr Handy klingelt, und sie beginnt mit einem Freund oder Verwandten ein Gespräch über eine Wohnung, die eine noch lebende Tante ihr vererben müsste. Laut und ungeniert spricht sie über diese doch sehr private Angelegenheit, es sieht fast so aus, als mache es ihr Spaß, die Mitreisenden daran teilhaben zu lassen. Die scheint das nicht zu stören: Einige hören offen zu, andere lesen in ihren Gratisblättern oder Frauenzeitschriften oder Autoillustrierten oder führen ebenso laut private oder berufliche Telefongespräche.
Clare wartet ein paar Minuten, dann blickt sie wieder auf das Buch, das sie in Händen hält, dreht es um: Auf der Rückseite ist ein nicht mehr ganz neues Foto von Daniel Deserti, der auf einem Holzzaun sitzt, seine Haare sind schwärzer als jetzt, das Gesicht weniger gezeichnet. Darunter steht: »Vom Autor von Der Blick des Hasen«. Unten rechts klebt das Schildchen eines Ladens mit antiquarischen Büchern, der Preis ist handgeschrieben: vier Euro fünfzig. Seltsam, denkt sie, dass sie unter allen möglichen liegengelassenen Büchern ausgerechnet dieses hier findet. Sie sieht Daniel Deserti vor sich, wie er im strömenden Regen in dem zerbeulten alten Jaguar sitzt und das Blut ihm über Stirn und Hals läuft; wie er die Porzellankuh mit dem Bauernpärchen in der Hand hält; wie er mit
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