Sie und Er
hinweg, er dämpft die Schuldgefühle, verwischt die Grenzen.
»Dann viel Vergnügen«, sagt Stefano, indem er plötzlich den Ton ändert, wie seine Mutter es auch oft macht. »Guten Appetit.«
»Danke.« Sie übergeht den vorwurfsvollen Unterton, versucht, die Gewissensbisse einzudämmen.
»Schönen Abend mit deinen Freunden«, sagt Stefano. »Und gute Nacht.«
»Dir auch.« Sie ist nicht besonders stabil auf den Beinen, sondern schwankt leicht; sie möchte sich wieder zu Daniel Deserti an den Tisch setzen.
»Viel Vergnügen«, wiederholt Stefano.
»Danke.« Sie legt auf.
Als sie an den Tisch zurückkommt, liest Daniel Deserti gerade mit unbeteiligter Miene seine sms. Er blickt auf: »Diese kleinen virtuellen Fenster auf unsere parallelen Dimensionen. Erbärmlich, was?«
Sie antwortet nicht, gießt sich Mineralwasser ins Glas: eine symbolische Geste, meint sie, um etwas Distanz zu schaffen zu vorher, als sie Wein getrunken und einen unerlaubten Ausflug in die Räume ihres Lebens unternommen hatten.
Er scheint es nicht zu bemerken, schiebt seine rechte Hand über die Tischdecke aus strohgelbem Papier.
Sie zieht die linke Hand zurück, aber nicht bis über den Tischrand. Sie müsste nachdenken, hat aber keine Lust dazu.
»Gibst du mir nicht die Hand?« Er schaut ihr in die Augen: kindlich, verschlagen, direkt, zynisch, eindringlich, man begreift es nicht.
»Warum sollte ich?«, gibt sie zurück, in einem Ton, der sie nicht überzeugt, weil er zwischen zu gegensätzlichen Haltungen schwankt.
»Damit ich sie anschauen kann.« Er lächelt, als wäre seine Bitte vollkommen unschuldig, ohne andere mögliche Interpretationsebenen.
»Ach, Handlesen kannst du jetzt auch?«, sagt sie. »Reicht dir dein Röntgenblick nicht?« Wellen der Anziehung und Angst wechseln in ihr ab.
Er lacht: »Ich will sie nur anschauen.« Er dreht seine Hand um, Handfläche nach oben, als wollte er etwas anbieten und nicht fordern.
Sie zögert, dann schiebt sie ihre Hand langsam nach vorn: Ihre Finger gleiten über seine, die fast sofort zudrücken, warm und stark. Beide schweigen, versunken in die Übertragung von Temperatur und Beschaffenheit und Spannungen; im Hintergrund flimmern die warmen Lichter des Dorfes, das plätschernde Geräusch der Brandung kommt und geht.
Er zieht ihre Hand zu sich und dreht sie um, betrachtet von nahem die Linien auf der Handfläche, fährt sie sacht mit dem Daumen nach. »Du hast edle Hände«, sagt er.
»Ach komm«, sagt sie, aber ein anhaltender Schauer überläuft sie. Sie versucht, nüchtern und beherrscht zu sein; es gelingt ihr nicht.
»Feinfühlige, elegante, aktive, interessante Hände.« Jetzt betrachtet er ihren Handrücken, fährt mit seinem Zeigeund Mittelfinger über die ganze Länge, vom Handgelenk bis zu den Fingerkuppen. »Unverfälscht, authentisch.«
»Machst du das bei allen Frauen so?«, fragt sie. Sie kann das durchaus, wenn sie will: selbstbewusst, witzig oder auch verführerisch gegenüber Männern auftreten. Sie lacht, spürt, dass ihre Zähne blitzen, ihre Augen leuchten; ihr ganzer Körper ist wie elektrisiert. Sie fragt sich, warum, warum nur.
»Nein.« Er schüttelt den Kopf.
Endlich kommt die Frau des Restaurants und bringt die Pasta. »Tut mir leid«, sagt sie. »Heute Abend ist es halt so.«
Sie zieht ihre Hand zurück, er lässt sie los: Ihre Finger gleiten übereinander, bis sie den Kontakt verlieren. Beide greifen stumm zur Gabel, führen sie zum Mund, kauen langsam. Der Geschmack der Spaghetti mit Seebarbensoße ist einfach und komplex, perfekt. Auch die Temperatur und die Dichte der Luft sind perfekt: Alle Leere ist ausgefüllt.
»Gut«, sagt Daniel Deserti. »Gut.« Seine Zufriedenheit wirkt echt, ungefiltert.
»Schmeckt es dir wirklich?«, fragt sie.
»Unglaublich gut«, sagt er. »Wunderbar. Völlig unerwartet.«
»Genauso unerwartet wie du«, sagt sie spontan und kichert. Sie tasten sich weiter an der gefährlichen Grenze entlang, teils kühn, teils vorsichtig; die elektromagnetische Welle kommt und geht, Anziehung und Angst wechseln sich ab.
»Meinst du, wie ich hergekommen bin?« Er legt den Kopf schief.
»Auch, wie du bist«, sagt sie: auf der Kippe, sehr auf der Kippe.
»Stört es dich nicht, dass ich in deinen geheimen Garten eingedrungen bin?«, sagt er.
»Nein.« Leise lächelnd schüttelt sie den Kopf. Allmählich lässt ihre innere Spannung nach, sie spürt es, es ist wie ein tiefer Atemzug, der die Gedanken und die Muskeln löst: Sie
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