Sie und Er
Gemeinschaftsgeist. Flüchtet sie?
Er folgt ihnen auf dem steinigen Strand, orientierungslos wie vorher, als die Sonne plötzlich hinter dem Horizont verschwand, nachdem sie in ihrer Herrschsucht so lange den ganzen Himmel eingenommen hatte. Er hat sich ja selber in diese Klemme gebracht, denkt er; es war wirklich nicht nötig, sich in die mentalen und emotionalen Kreisläufe einer weiteren Frau einzuklinken, bei all den Forderungen und Enttäuschungen und Klagen, mit denen er sowieso schon zurechtkommen muss. Er fühlt sich am falschen Platz, in der falschen Rolle, unzufrieden. So interessant und anders sie ihm auch erschienen war, das, worauf sie jetzt zugehen, kennt er in- und auswendig. Wenn er sich bemühen wollte, könnte er sich an Dutzende solcher Strandpartys erinnern, samt Lagerfeuer aus vom Meer angeschwemmtem Holz, lauwarmem Bier und billigem Wein und Joints und leerem Gerede und grundloser Euphorie und Blicken und Küssen zwischen halb Fremden und allem Übrigen. Er braucht das nicht, hat keine Lust darauf, schließlich ist er nicht deswegen spontan von Mailand bis hierher gefahren. Doch die Moletto geht schnell mit ihren Freunden voran, und ihm bleibt nichts, als hinterherzulaufen und auch noch so zu tun, als sei er wenigstens halbwegs guter Laune.
Am Ende des Strands sind etwa dreißig Personen versammelt, die zur Musik eines Stereogeräts tanzen und reden und lachen und gestikulieren und am Rand eines knackenden, in der Nacht rot lodernden Feuers über der Glut gebratene Würstchen essen. Die Moletto begrüßt alle genauso schwungvoll und freudig wie schon die ersten beiden, ist zu Männern und Frauen gleich herzlich, doch die Männer sind sichtlich begeistert über die kameradschaftliche Vertraulichkeit, die sie ihnen entgegenbringt. Sie selbst wirkt dabei ganz unbefangen und ohne Hintergedanken, aber sie ist eine attraktive Frau, und falls sie sich dessen zufällig nicht bewusst sein sollte, so sind es die anderen nur zu genau, nach der Art zu urteilen, wie sie sie umringen, sie drücken, sie »Amore mio!« oder »Schöne Clare!« oder »Chiarina!« nennen und sie am Arm fassen, ihren amerikanischen Akzent nachahmen, lachen, sie anstoßen. Allerdings sind auch die Frauen herzlich zu ihr, vielleicht, weil sie so ungekünstelt und fröhlich auf sie zugeht, wegen der Freundschaft, die sich über Jahre bei Begegnungen an der Küste, bei Gesprächen, Abendessen, beim gemeinsamen Baden und Scherzen gefestigt hat.
Je länger Deserti sich diese verzweigte, lange Geschichte vorstellt, umso mehr fühlt er sich wie ein zur Innerlichkeit Verdammter, sein eigener Grubenarbeiter, der sich verbissen dem im Grunde sinnlosen Unterfangen widmet, Wahrnehmungen in Gedanken und Gedanken in geschriebene Wörter zu übersetzen. Ein Konstrukteur von Sätzen, der sich selbst einredet, eine Art höheren Auftrag zu haben, dabei liegen seine Beweggründe doch ganz in der Anpassungsschwierigkeit, deretwegen er sich schon als Kind aus jedweder Gesellschaft oder Fußballmannschaft oder Gruppe ausgeschlossen fühlte, wenn sie mehr als zwei oder drei Personen auf einmal umfasste. Natürlich ist er jetzt ein Mann von Welt, der beim Erscheinen seiner Bücher in den Buchhandlungen Dutzende von Exemplaren signiert und ziemlich gut gelernt hat, Fremden gegenüber Unbefangenheit vorzutäuschen; dennoch bleibt innerlich das Gefühl des Nicht-Dazugehörens bestehen, das seinen kritischen Geist in eine geschliffene scharfe Waffe verwandelt, und damit spießt er jede Erwartung, jede Überraschung sofort auf und lässt sie platzen und zusammenschnurren, noch bevor er sie überhaupt genauer ins Auge gefasst hat.
Ein Dutzend Schritte von ihm entfernt scherzt und lacht die Moletto mit ihren Freunden. Der Typ namens Gio stellt das Stereogerät ab, setzt sich, greift zur Gitarre und beginnt zu singen, ein anderer Typ hinter ihm trommelt auf Bongos. Sie singt mit, beginnt zu tanzen, lässt dabei ihre Arme am Körper entlanggleiten bis zu den Hüften und dann wieder aufwärts, die langen Beine bewegen sich zum Rhythmus der Musik, die Hüften kreisen mit der unschuldigen Sinnlichkeit einer Inselbewohnerin des Pazifik, die wilden Locken wogen im warmen Schein des Feuers. Sie verweilt nur kurz bei dem Gitarrenspieler, dann bewegt sie sich den abschüssigen Strand entlang, tanzt mit Männern und Frauen, trinkt aus einer Flasche, die ihr jemand hinhält. Sie wirkt meilenweit entfernt von dem Gespräch vorhin auf der Terrasse, und auch so vollkommen
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