Sie und Er
allem«, sagt sie. »Erleichtert einem das Leben, wirklich.«
»Tja«, sagt er. »Alles hat eben seinen Preis. Je schöner und seltener die Qualität, umso höher die Kosten.«
Sie wendet sich noch weiter zur Seite, lässt sich von dem lauen Wind Gesicht und Haare streicheln. Das Handy in der Tasche vibriert erneut, das Display blinkt unter dem dünnen Baumwollstoff. Sie zieht es heraus, eine sms von Stefano: Mailand angekommen? Die Schuldgefühle lassen nicht auf sich warten.
»Unglaublich, dass du diesem Halunken gegenüber immer noch Schuldgefühle hast«, sagt Daniel Deserti.
»Wen meinst du?«, fragt sie erschrocken. Durchschaut er sie wirklich so, dass er an ihrem Ausdruck ablesen kann, von wem diese Nachricht kommt?
»Den Hampelmann«, antwortet er.
»Ich habe keine Schuldgefühle.« Sie fühlt sich kurz erleichtert, was aber nicht viel ändert. In Wirklichkeit hat sie eine Menge Schuldgefühle: gegenüber Stefano, Alberto, Luigi, ihrem Vater, ihrer Mutter, ihren Schwestern, sich selbst. Von klein auf fühlte sie sich schuldig für alles, was sie getan und nicht getan hatte, dafür, wie sie es getan oder nicht getan hatte; ihr scheint, Schuldgefühle gehören zu ihren treusten Weggefährten, sie verfolgen sie auf Schritt und Tritt.
Er schüttelt den Kopf: »Es funktioniert eben fast immer.«
»Was?«, fragt sie. Sie weiß nicht, was sie Stefano antworten soll und wie.
»Die moralische und intellektuelle Unaufrichtigkeit funktioniert immer«, sagt er. »In jedem Bereich.«
Sie tippt rasch Nein auf dem Handy und schiebt es wieder in die Hosentasche. Sie fühlt sich eingezwängt zwischen der Unerbittlichkeit von Daniel Desertis Beobachtungen, Albertos Groll, Stefanos Besitzanspruch: von allen Seiten belagert.
»Vor allem bei einer wie dir«, sagt Daniel Deserti. »Wegen deiner natürlichen Neigung zur Aufrichtigkeit.«
»Woher willst du das jetzt schon wieder wissen?«, fragt sie. »Könnte ich nicht auch ein Miststück sein?« Ihr Handy vibriert erneut in der Tasche: drrr-drrr, drrr-drrr.
»Wohl kaum.« Er schüttelt den Kopf, sieht sie weiter unverwandt an.
Sie zieht das Handy heraus. Wieder eine sms von Stefano: Wann kommst du? Die Belagerung wird fortgesetzt.
»Siehst du, wie sie dich bedrängen?«, sagt Daniel Deserti. »Siehst du?«
Sie beißt sich auf die Lippen; und schon wieder vibriert das Handy, dazu ertönt jetzt auch der kleine Elektrogitarren-Riff. Erneut denkt sie, dass sie nicht hier sein dürfte, dass sie sich in die Klemme gebracht hat, ohne nachzudenken.
Er schüttelt den Kopf, lacht, dreht sich um und schaut aufs Meer.
Sie steht auf, geht ans Ende der Terrasse, während das Handy in ihrer Hand unermüdlich zum Klingelton vibriert; sie antwortet erst, als sie bei den Stufen angekommen ist, die zur Straße hinunterführen.
»Mir Bescheid sagen, wenn du deine Pläne änderst, ist wohl zu viel verlangt!« Stefanos Stimme klingt zum Zerreißen gespannt, so wie jedes Mal, wenn er nicht weiß, was in ihr vorgeht. »Wolltest du nicht heute Abend nach Mailand zurückkommen?«
»Gerade wollte ich dich anrufen«, sagt sie ohne rechte Überzeugung; ihre Aussprache ist unpräzis wegen des Weißweins, den sie nach dem falschen Negroni auf leeren Magen getrunken hat.
»Ach ja?«, sagt Stefano.
»Ja«, sagt sie. Ausreden zu erfinden war noch nie ihre Stärke, schon beim bloßen Gedanken daran fühlt sie sich mies.
»Was ist los?«, fragt Stefano. »Hast du beschlossen, die zwei Tage in einen längeren Urlaub umzuwandeln?«
»Es ist alles komplizierter, als ich dachte.« Das wenigstens stimmt, denkt sie; wenn es ihr gelingt, ganz allgemein zu bleiben, braucht sie vielleicht gar nicht zu lügen.
»Aber musst du morgen früh nicht zur Arbeit?«, sagt Stefano. »Hast du getrunken? Du redest so komisch.«
»Ich nehme den Zug um sechs.« Sie bemüht sich, die Wörter ordentlich zu trennen. »Der kommt um acht Uhr zwanzig in Mailand an, um neun bin ich im Büro.«
»Was ist das für Musik?«, fragt Stefano. »Wo bist du? Sag, hast du getrunken?« Seit sie zusammen sind, versucht er, ihren Worten Hinweise zu entnehmen und sie so auch aus der Ferne zu kontrollieren, nicht um sie zu beschützen, sondern eher aus Angst, sie könnte aus dem Gehege ihrer gemeinsamen Sprache ausbrechen und in einen Bereich davonlaufen, wohin er ihr nicht folgen kann.
»Ich bin beim Abendessen mit Freunden.« Sie weiß nur zu gut, dass die Lüge hier nicht nur im Plural liegt; der Wein hilft ihr jedoch darüber
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