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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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erlaubten. Immerhin hatte sie lange schlanke Beine, die sich nicht verbergen ließen.
    »Sind Sie blind?« fragte die Schaffnerin. Ihre Stimme klang trotz der unfreundlichen Frage angenehm.
    »Im Gegenteil, ich habe mir den Spruch zu Herzen genommen, den Sie da herumfahren, Schwesterchen. Rußland ist unsterblich durch euren Mut …« Boranow setzte einen Fuß auf das Trittbrett. Die Schaffnerin zögerte, dann hob auch sie das Bein und trat Boranow auf den Schuh. Die Menge verharrte still. Das wird ein Schauspiel, Genossen, das heitert etwas auf. Kommt da ein Fremder her und legt sich an mit diesem Weibchen. Ihm werden noch die Ohren glühen, paßt gut auf, Genossen!
    Boranow zog seinen Fuß zurück und kratzte sich die Nase. »Sie treten wie ein Känguruh«, sagte er.
    »Wie was?« fragte die Frau böse.
    »Ein Känguruh! Genossin, Sie kennen kein Känguruh?! Da muß ich Ihnen etwas erzählen. In Leningrad – vor dem Krieg war's – gastierte ein Zirkus. Einen Zirkus kennen Sie doch?« Beleidigt schwieg die Schaffnerin. Wer in Moskau kennt keinen Zirkus? Fünf Dinge liebt der Moskauer und behauptet, sie seien die besten der Welt: die U-Bahn, das Bolschoi-Theater, das Speiseeis, die Wiesen am Wolgaufer und den Zirkus. Boranow lehnte sich gegen den Straßenbahnwagen und blickte in den blauen Sommerhimmel. Ein paar Kräuselwolken trieben nach Westen. Ein Offensivwetter, dachte er. Das Land ist hart und trocken. Die sowjetischen Panzerarmeen können gegen die deutschen Stellungen rollen. 132 Divisionen! Gott verzeih uns allen …
    »In diesem Zirkus«, sagte Boranow mit wichtiger Miene, »gab es eine Attraktion, über die wir alle lachten: Ein Känguruh kämpfte gegen einen Bären. Das haben Sie noch nicht gesehen, was?! Kommt da der Bär her, hochaufgerichtet, ein Berg von Pelz, kraftstrotzend, mit listigen Augen blinzelnd, und steht dort das Känguruh auf seinen langen Latschenbeinen, wackelt mit den Ohren und leckt sich die Schnauze. Wir hielten den Atem an. Gleich wird der Bär das Beuteltierchen zermalmen, die Knochen werden wir knacken hören. Eine Frau fällt schon in Ohnmacht, ein Großväterchen knabbert an seinem Bart. Aber was sehen wir: Kaum ist der Bär nahe genug heran, hüpft das Känguruh herum, hebt einen Fuß und – klatsch! – tritt dem Bären vor den Bauch. Was soll ich sagen: Der Bär kippt nach hinten um, legt sich auf den Rücken, streckt alle viere von sich. Kapituliert! Vor einem Känguruh! Ganz Leningrad sprach darüber.« Boranow blickte begehrend in den Straßenbahnwaggon. »Wir verstehen uns, Genossin?«
    »Nein!«
    »Wann darf man die Straßenbahn besetzen?«
    »Wenn ich das Zeichen gebe.«
    »Und wann geben Sie es?«
    »Wenn ich es für richtig halte.«
    »Und wann ist diese Zeit gekommen?« Boranow lächelte sie an. »Muß man einen Kalender führen?«
    »Idiot!« sagte die Schaffnerin. Sie trat zurück, brachte sich hinter einer Art stählerner Barriere in Sicherheit und hob die Hand. »Jetzt!«
    Boranow machte einen Satz, stürzte in den Waggon und klemmte sich auf einen Sitz am Fenster. Kaum saß er, krachte die Woge der Wartenden in die Straßenbahn, ein Orkan von Stimmen brüllte über sie hinweg, die Schaffnerin saß hinter den Hebeln des Fahrerstandes und trat warnend auf die Klingel. Dann fuhr die Bahn plötzlich los, einige Zurückgebliebene rannten hinter ihr her und rauften sich die Haare, aber die Fahrt wurde immer schneller, die Unsicheren, die draußen hingen, sprangen noch halsbrecherisch ab, die Mutigen klammerten sich irgendwo fest. Die Vorortbahn nach Moskau nahm volle Fahrt auf und ratterte über die ausgeschlagenen Schienen der großen Stadt entgegen.
    Boranow, der neben der Trennwand zum Fahrersitz saß, betrachtete das Profil der Schaffnerin. Ein hübsches Ding, dachte er. Wie alt mag sie sein? Höchstens Mitte Zwanzig, eher jünger. Wenn die Sonne auf ihr braunes Haar fällt, glitzert es an den Spitzen rötlich. Einen schlanken Hals hat sie, im Nacken voll lockigem Flaum. Verdammt, sie ist wirklich hübsch.
    So lernte Boranow die Schaffnerin Lyra Pawlowna Sharenkowa kennen.
    Der Schmerz hatte gesiegt.
    Ob er ohnmächtig gewesen war, oder ob sein Hirn bloß alle Wahrnehmungen gestrichen hatte und alle Nerven lähmte, wußte Bunurian nicht, als er wieder klar denken konnte. Er erkannte das Gebüsch wieder, in das er sich hineingerollt hatte. Sein Gaumen war gefüllt mit bitter schmeckendem Blätterteig. Er spuckte ihn aus und erinnerte sich: Ich habe einen Ast

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