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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wahrscheinlich doch. Ein guter Weg nach Moskau ist die Straßenbahn. Sie fährt wieder bis in die Vororte, ist überfüllt, keiner kontrolliert sie. Denn wer mit der Straßenbahn fährt, ist ein arbeitender Genosse. Wer sonst nähme die Unbequemlichkeit auf sich, auf den Trittbrettern mitzufahren, sich an Stangen festzuklammern oder sich in einer Menschenmenge so einkeilen zu lassen, daß man die Kopeken Wechselgeld in den Mund geschoben bekommt, weil keine Hand mehr gehoben werden kann. Boranow entschloß sich, erst die Fahrt mit dem Zug und dann mit der Straßenbahn zu wagen. Er wartete in dem Birkenwäldchen, bis sich sein Atem beruhigt hatte, rekapitulierte dann in seinem Hirn die Landkarte – es gelang ihm leicht, dank der guten Milda Ifanowna, die sie so hart gedrillt hatte! – und sagte sich, daß nordwestlich die Straße von Plesenskoje nach Naro-Fominsk verlaufen müßte. War er erst einmal in Naro und am Bahnhof, würde die Welt viel normaler aussehen. Am unauffälligsten ist der Mensch in der Masse.
    Boranow wanderte los, erreichte die unbefestigte Straße nach Plesenskoje und nach vier Werst die ersten Häuser des Dorfes. Vor dem zweiten Haus sah er ein Gerät stehen, das für ihn schicksalsbestimmend sein konnte: ein Fahrrad! Mit der Gelassenheit eines Hundes, der an die Hauswand geht, um sein Bein zu heben, betrat Boranow den durch einen Knüppelzaun vom Weg abgegrenzten Vorgarten, wartete auf das Kläffen eines Hofköters und legte sich einen schönen Begrüßungssatz zurecht, falls man die Tür aufriß und ihn mit einem Beil bedrohte. Aber auch hier bellte kein Hund – sie werden alle in den Hungerjahren aufgefressen haben, dachte Boranow und nichts rührte sich, als er nach dem Fahrrad griff, es aus dem Vorgarten schob und sich auf den zerschlissenen Sattel schwang. Mit ein paar kräftigen Tritten sauste er davon, die Kette knirschte so laut, daß Boranow vor Schreck den Atem anhielt, aber nichts geschah. Die Häuser schliefen in der beruhigenden Gewißheit, daß der Krieg schon weit weg war und nie mehr zurückkehren würde. Die deutsche Gefahr war vorbei; Moskau ist uneinnehmbar. Nur einmal hatten fremde Truppen die Stadt geplündert und angezündet. Das war, als die Tataren wie eine feurige Wolke über die Welt zogen. Aber wie lange ist das her? Seither scheiterten alle Feinde an Moskau. Auch Napoleons Grande Armee. Auch damals brannte Moskau. Aber dieses Feuer hatten die Russen gelegt; es jagte die Feinde aus der Stadt und in den Untergang.
    Boranow radelte die erste Wegstrecke, als müsse er ein Radrennen gewinnen. Erst auf der breiten Straße, die nach Naro-Fominsk führte, schlug er ein gemütlicheres Tempo ein, schob seine Mütze in den Nacken und war ausgesprochen froh gestimmt. Kaum wahrnehmbar begann der Himmel sich zu röten; das Nachtblau durchsetzte sich mit einem Schimmer Purpur, der Morgen schlich sich heran.
    Es war hell, als Boranow mit der Fröhlichkeit eines pflichteifrigen Genossen, der sich auf seine Arbeit fürs Vaterland freut, durch die Straßen von Naro-Fominsk strampelte und sich dem Bahnhof näherte.
    Es war ein schöner kleiner Bahnhof, der sogar eine Uhr besaß, die nicht stand. Danach war es jetzt 10 Minuten vor 5. In der Bahnhofshalle war schon Betrieb. Viele Bauern trafen sich hier, mit Gitterkisten voller Hühner und Enten, die sie offensichtlich nach Moskau bringen wollten, um sie den Städtern für gute Rubel zu verkaufen. Denn noch war ja Krieg, die Lebensmittel waren knapp und nur auf Karten zu haben, und wer ein Huhn erwerben konnte, der gab mehr her als nur Rubel. Man tauschte Schmuck und gute Stiefel ein, und wenn das auch bei harten Strafen verboten war – wer wollte es unterbinden?! Tauschte man nicht überall? Kam nicht der gestrenge Kommissar, der die Hütte zur Untersuchung durch die Haustür betrat, nach dem amtlichen Akt durch die Hintertür wieder herein und fragte freundlich: »Mütterchen, hast du nicht ein Körbchen Eier für mich, einen schwerarbeitenden Menschen?«
    Boranow setzte sich auf eine Bank zu einer Gruppe von Arbeitern, die – so entnahm er ihren Reden – in einer Federnfabrik bei Rassudowo beschäftigt waren. Er holte eine dicke Zwiebel (der keiner ansah, daß sie in Mecklenburg gewachsen war) aus der Tasche und begann sie mit Kennermiene zu schälen und stückweise zu essen.
    Bevor der Zug nach Moskau einlief – da war es schon fast acht Uhr, erschien dreimal ein Milizionär auf dem Bahnsteig, überschaute die wartende Menge,

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