Sie waren zehn
abgerissen und ihn samt den Blättern in den Mund gestopft, um nicht schreien zu müssen.
Warum nicht schreien, dachte er weiter. Ein Schmerz potenziert sich, wenn man ihn in sich hineinfrißt. Schreien befreit. Ich habe auf unserem Gut erlebt, wie sich ein Waldarbeiter mit einem Axthieb fast das Bein abtrennte, dann auf dem Rücken lag und brüllte, unmenschlich brüllte – und plötzlich lächelte, als ich ihn auf eine Trage hob. »Junges Härrchen «, sagte er, » is man nicht so schlimm. Hab' alles aus mir weggepustet …«
Holzfäller! Das war es! Bunurians Hirn dachte klar und logisch. Keine fünfhundert Meter nach rechts lagen drei Blockhäuser inmitten von Stapeln frisch geschlagenen Holzes. Eine breite Schneise wies den Weg, den die Genossen Holzfäller nahmen, die beim Morgengrauen aus den Hütten treten, sich an einer Tonne waschen, in einer Reihe und beim fröhlichen Schwatzen in Windrichtung pinkeln würden und dann, nach dem Genuß von Brot, kaltem Hasenbraten und gezuckerten Beeren, an ihre Kahlschläge marschieren würden. Ihnen konnte man kaum weismachen, daß durch bloßes Stolpern über eine Wurzel ein Knöchel so kompliziert brechen kann. Und sollten sie's doch glauben, war immer noch zu erzählen, wieso der Anzug so zerfetzt und die Haut an vielen Stellen abgeschabt war, als habe man unter einem Rindenschäler gelegen.
Bunurian hob mühsam den Kopf. Das Gebüsch, in das er sich geflüchtet hatte, war dicht, aber es lag nahe dem Weg, über den man das geschlagene Holz abtransportieren würde. Man konnte ihn nicht sehen, und wenn kein Hund herumstrolchte, der ihn wittern würde, war er hier sicher. Ein paar Tage war es hier auszuhalten. Der Schmerz würde keinen Hunger aufkommen lassen, und den Durst besänftigte man, indem man den Tau von den Blättern leckte. Am frühen Morgen war das Gras noch feucht, man konnte das Gesicht hineindrücken und so liegenbleiben, bis die Wärme das Naß wegsaugte.
Der Knöchel war dick wie eine Zitrone. Mit klappernden Zähnen versuchte Bunurian, den zerrissenen Strumpf auszuziehen. Es war, als häute er sich, ein Brennen durchglühte seinen ganzen Körper, er biß wieder auf ein Stück Holz und befreite seinen Knöchel von dem Strumpf. Dann lag er wieder, mit Tränen in den Augen, auf dem Rücken und wartete ab, bis der größte Schmerz sich verteilte und überging in das gleichbleibende Gefühl, auf einem Nagelbrett zu liegen.
Einmal hört auch das auf, sagte er sich vor. Es wird alles besser werden, wenn die Schwellung nachläßt. Hör zu, Knöchel: Wir haben noch eine Menge vor uns. Wir müssen nach Moskau, hörst du? Ein paar Tage gebe ich dir Zeit, aber dann mußt du wieder mitspielen. Denk an die linke Schulter. Das war 1942, vor Kertsch. Genau am 4. Mai. Da hatten wir die Halbinsel fast erobert, und vier sowjetische Panzer versuchten verzweifelt, durchzubrechen. Ich lag hinter einem Erdhaufen, flach wie eine Flunder. Erinnerst du dich? Ich blieb liegen, die geballten Ladungen neben mir, und als der erste Panzer an mir vorbeifuhr und ich im toten Winkel lag, bin ich aufgesprungen und habe mein Handgranatenbündel unter den Panzerturm geschoben und abgezogen. Und dann hat's mich doch noch erwischt. Natürlich, eine Schulter ist kein Knöchel. Mit einer Kugel in der Schulter kann man noch laufen. Aber wenn ich dir vier Tage Ruhe gebe, Knöchel, solltest du soweit sein, daß du's erträgst, wenn ich auf Krücken weitermarschiere.
Bunurian zerriß sein Hemd, zog einige Fetzen durch das betaute Gras, bis sie naß waren, und wickelte sie um seinen unförmigen Fuß. Die Kühlung war köstlich, der Schmerz ließ nach, eine Art Fröhlichkeit überkam ihn, weil er wieder den Mund öffnen konnte, ohne daß seine Zähne klapperten. Er sah den neuen Tag in den Himmel steigen mit einer blaßgelben Sonne, die sofort das Land mit Wärme überschüttete. Im Wald erwachte hundertfaches Leben, Vögel zwitscherten über ihm, im trockenen Geäst raschelten Tiere. Von den Blockhäusern schallten Stimmen herüber, und dann hörte er ein Knattern, als wehre sich ein alter Traktormotor gegen die Arbeit.
Nehmt eine andere Richtung, Genossen, dachte Bunurian und wechselte die Fetzenkompressen. Drüben stehen höhere und kräftigere Bäume. Macht einen Bogen um mich. Was habt ihr davon, wenn ihr mich totschlagt?! Den Ausgang des Krieges kann ich nicht mehr ändern, auch wenn man sich im OKW noch so sehr einbildet, wir zehn könnten mit der Ermordung Stalins das Weltgeschehen
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