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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Petrowskij kam tatsächlich in ein Abteil, in dem vier Offiziere saßen und an zwei Brettern Schach spielten. Sie nickten nur, als Luka Iwanowitsch höflich grüßte und sich in eine Ecke zwängte. Das ist ein Glück, dachte er zufrieden. Wer Schach spielt, fragt nicht. Ein Schachspieler lebt außerhalb dieser Welt: er lebt in seinen Figuren. Ein Russe, der Schach spielt, ist Gott am nächsten.

Er warf ein paar Blicke über die Schachbretter und stellte fest, daß die Spiele noch lange dauern konnten. Es waren verzwickte Stellungen – die vier Offiziere saßen in Gedanken versunken und starrten vor sich hin. Petrowskij unterdrückte den Vorschlag, einen der Springer einzusetzen, wodurch man den Turm kassieren könnte. Er blickte aus dem Fenster und fühlte ein Jucken unter der Kopfhaut, als er auf dem Bahnhof von Noginsk, den sie als nächsten erreichten, zwei Militärstreifen warten sah. Aber nichts geschah. Es ging keine Kontrolle durch den Zug. Die Polizisten waren auch nur Fahrgäste. Ist eben ein vom Militär bevorzugter Zug, dachte Petrowskij. Die paar Zivilisten fallen nicht auf; ängstliche Hündchen, die sich nicht bemerkbar machen. Ein Generalstabsoffizier übersieht solchen Unrat. Zivilisten! Wie sich doch die Charaktere bei allen Militärs so brüderlich gleichen …
    Hinter Noginsk, bei Kuchino, wurde es schon städtisch. Die Häuser rückten an die Bahnlinie heran. Auf der Straße, parallel zum Zug, tauchten Lastwagen auf.
    Moskau kam näher. Man spürte schon seinen Atem.
    Petrowskij stand auf und ging hinaus auf den Gang. Er mußte eine innere Unruhe bekämpfen. Alles war so glattgegangen, so einfach, so erbärmlich simpel. Wenn es so weiterging, sah er morgen schon Milda Ifanowna wieder.
    Er drehte sich eine Zigarette und rauchte sie hastig. Ein großer Verschiebebahnhof wurde durchfahren, die Waggons ratterten und hüpften über unzählige Weichen.
    Moskau! Moskau!
    Petrowskij ging nach vorn zum Ausstieg und stellte sich zwischen die dort wartenden Offiziere.
    Mit allen Reisenden in seinem Abteil hatte Piotr Mironowitsch Sepkin Freundschaft geschlossen, als er in den Belorussischen Bahnhof einrollte. So fröhlich war die Gesellschaft, daß sogar ein älterer Mitfahrer auf einer Mundharmonika spielte und alle den Takt der Lieder mit den Stiefeln schlugen. Der Lustigste war Sepkin selbst, denn er betrachtete sich als den größten Glückspilz der zehn: Vom Belorussischen Bahnhof bis zur Lesnaja uliza, wo Milda Ifanowna wohnte, konnte man fast hinspucken. Man brauchte nur den Platz zu überqueren, von dem sternförmig die großen Straßen abgingen wie bei der Place de l'Etoile in Paris, und schon stand man vor dem Haus Nummer 19.
    Guten Tag, meine Schöne, würde Sepkin sagen. Sie können sich die Augen ruhig reiben – es stimmt, was Sie sehen. Der liebe Piotr Mironowitsch ist eingetroffen. Wo ist das Bömbchen für Stalin – ich will ihn gleich in die Luft sprengen!
    Der Zug hielt knirschend in der riesigen Halle des Bahnhofs, der wie alle Moskauer Bahnhöfe eher einem Schloß glich und mit einem Prunk ausgestattet war, der einen Zaren hätte neidisch werden lassen. Sepkin verabschiedete sich von allen Mitreisenden mit vielen Wangenküssen. Dann stand er auf dem Bahnsteig mit klopfendem Herzen und wachen Augen. Moskau. Endstation.
    Ein böses Wort: Endstation.
    Wer will an das Ende denken? Sepkin wollte es nicht. Er beobachtete die Militärpolizisten und die Milizionäre, schlenderte dann zum Ausgang, kaufte sich eine neue Prawda und las mit großem Interesse den sowjetischen Heeresbericht.
    Kein Wort über die Offensive. An allen Fronten verdammte Ruhe. Örtliche Kämpfe, kleine Einbrüche. Nadelstiche nur gegen den deutschen Leib. Man atmete Kraft ein, um den großen Schlag zu führen.
    Auf dem Kasaner Bahnhof lief wenig später Luka Iwanowitsch Petrowskij ein, umringt von reich dekorierten Offizieren, unauffällig und übersehen. Er verließ schnell das Gebäude, lief ohne Aufenthalt bis zum Lermontow-Platz und setzte sich dort auf eine Bank in die Sonne. Ein paar alte Männer, der eine mit einem struppigen Hund, der während der Hungerjahre erstaunlicherweise nicht in der Pfanne geendet hatte, genossen die Frühsommerwärme, kauten Sonnenblumenkerne und bespuckten den Boden mit den zerkauten Schalen. Petrowskij atmete ein paarmal kräftig durch, um seinen jagenden Puls zu besänftigen. Die letzten Worte Oberst von Rennebergs fielen ihm ein: »Meine Herren, wenn Sie Moskau erreicht haben,

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