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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Abkupplerin zwischen den vielen Güterwagen verschwunden war, kletterte dann über die Puffer an einem Waggon hoch, zog sich über den Rand der Wagenwand und ließ sich zwischen die Kühe fallen. Die Tiere glotzten, brummten dumpf und stießen ihn mit ihren weichen Schnauzen an. Kraskin lachte, tätschelte ihnen das Maul, kraulte das Fell zwischen den Augen und drückte die Köpfe dann weg, die sich an ihn drängten. Es waren kurzhornige, schwere, fahle Rinder, die aus dem Süden kamen und seit drei Tagen unterwegs waren. Eine Unruhe lag in ihnen, die Kraskin aber nicht spürte. Er war ein Stadtmensch und kannte Kühe nur als Milchgeber und Fleischlieferanten. Aus den Häuten machte man Leder, aus den Knochenabfällen Seife. Das hatte er in der Schule gelernt. Ob das mit der Seife stimmte, wußte er nicht. Ein Schulkamerad fiel ihm ein, der Walther Bense, ein Kerl mit einer Kodderschnauze und frühreif wie eine alleinstehende Tomate. »Die beste, schäumendste und fetteste Seife wird aus Rinderhoden gemacht!« sagte er und quiekte vor Lachen. »Seit sich meine Schwester damit wäscht, bekommt sie einen dicken Bauch …«
    Walther Bense war dreimal nahe daran gewesen, wegen solcher Sprüche von der Schule zu fliegen. 1943 war er gefallen, als junger Leutnant, bei Brjansk. Kraskin suchte sich einen Platz für die Weiterfahrt und entschied sich für eine schmale Latte, die jemand, keiner weiß, warum, an die Schmalseite des Waggons genagelt hatte. Hier konnte Kraskin seinen Hintern abstützen. Es war nicht gerade erholsam, eher mühselig, aber auf die Dauer entlastete es die Beine, weil er das Gewicht ab und zu auf das Gesäß verlagern konnte.
    Er stützte sich ab, hatte das Gefühl, wirklich zu sitzen, und betrachtete die Kühe, die ihn anglotzten. Von draußen hörte er wieder das Krachen der Puffer, das klirrende Aufeinandertreffen von Eisen, dann folgte das Einhaken der Stahlseile, das Einrasten der Druckluftbremsen. Die dicke Rangiererin war wieder am Werk. Als sie an Kraskins Viehwagen vorbeiging, hörte er sie singen. Die Arbeit, so schwer sie auch für eine Frau war, machte sie fröhlich. Kraskin schob wieder sich ihm nähernde Kuhmäuler weg und überlegte, ob er sich eine Zigarette drehen sollte. Da er nicht wußte, wie Kühe auf Qualm, und Tabakqualm im besonderen, reagieren, verkniff er sich den Genuß und konzentrierte sich darauf, alle Geräusche von außen zu analysieren.
    Als auch dieses nicht mehr ablenkte, fand Kraskin zu seiner Leidenschaft, der klassischen Musik, zurück. Er starrte in den rotgeränderten Abendhimmel und ließ in seinem Gedächtnis seine Lieblingsstücke abspielen. Das Gralswunder aus Parsival, dirigiert von Toscanini … die Meistersinger-Ouvertüre unter der Leitung von Furtwängler … das 1. Klavierkonzert von Beethoven mit Edwin Fischer am Flügel, dirigiert von Bruno Walter … Elly Neys Beethoven-Sonaten und Giesekings Chopin-Nocturnes … Bruckners gewaltige 9. Sinfonie, mit Clemens Krauß am Pult … Mein Gott, ist das Leben schön, dachte Kraskin, der einmal Detlev Adler hieß und nie Offizier, sondern immer nur Dirigent hatte werden wollen. Dieser Himmel aus Musik! Diese Unsterblichkeit der Töne. Und ich hocke hier zwischen muhenden Kühen, will nach Moskau fahren und Stalin töten. Welche Unendlichkeiten liegen dazwischen …
    Die Nacht kam sanft über Stupino wie ein warmes Samttuch. Ein Ruck erschütterte den Güterzug; eine Lok wurde angekoppelt. Kraskin hörte ihr Signal pfeifen. Der Rangierer – es konnte unmöglich noch die Dicke sein – antwortete mit einer Trillerpfeife. Dann rollten die Wagen vor und zurück, nur eine kleine Strecke, neue Erschütterungen vibrierten durch den Zug, andere Wagen hängten sich an den Transport, und plötzlich fuhren sie, begann das Singen der Räder über den Schienen.
    Moskau, ich grüße dich! Räder müssen rollen für den Sieg, schrieb man an deutsche Güterwagen. Bei mir klingt es anders: Stalin – Stalin – Stalin –. Und wenn man Glück hat, unverschämtes Glück, auch: Milda – Milda – Milda – und Leben – Leben – Leben …
    Die Kühe standen im Waggon, eng zusammengedrückt, als wollten sie sich gegenseitig stützen. Beißender Geruch von Urin und Kot verstärkte sich, den auch der Fahrtwind nicht mitriß.
    Plötzlich fiel es Kraskin auf, daß der Waggon den Umständen entsprechend ziemlich sauber gewesen war, als er ihn zum Versteck gewählt hatte. Auf dem Weg vom Süden nach Moskau mußten die Waggon also

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