Sie waren zehn
aß gerade eine Zwiebel und dachte daran, wie schwer die Übung in Eberswalde gewesen war; eine Zwiebel zu schälen und in Scheiben zu schneiden, ohne daß einem die Tränen in die Augen schossen. Ein Russe weint nicht beim Zwiebelessen, hatte Milda Ifanowna gesagt. Übt, Genossen, übt. Und wenn ihr euch nachts Zwiebeln auf die Augen legt … ihr müßt euch daran gewöhnen!
Iwanow hatte es nie gelernt. Und so hockte er auch jetzt am Wegrand, aß mit abgewandtem Gesicht seine Zwiebel und trank kalten Tee aus einer sowjetischen Feldflasche.
Nun also hielt das Fahrrad vor ihm, und es konnte bei Iwanows blonden Locken gar nicht anders sein – wer saß auf dem Sattel? Ein junges Mädchen! Das ausgeblichene Kopftuch flatterte im Morgenwind, das lange Kleid bauschte sich, und das Mädchen hatte feste Beine, einen molligen Körper und zwei Grübchen in den Wangen.
Als sie sich zu Iwanow beugte, ruhten ihre Brüste auf der Lenkstange.
»Wer bist du denn?« fragte sie. »Ich kenne dich nicht.«
»Ich heiße Fjedor Pantelijewitsch, und du kennst mich.«
»Nein.«
»Aber doch. Seit einer Minute!« Er lachte, und sie lachte mit.
Sie war keine Schönheit, aber wenn sie lachte, schien ihre Haut zu leuchten.
»Wo kommst du her?« fragte sie.
»Aus dem Krieg. Sieh her!« Iwanow hob sein Hemd. Eine Narbe war da, von einem Granatsplitter, den er vor einem Jahr, kurz nachdem er Leutnant geworden war, durch Zufall eingefangen hatte. Eine verirrte Granate – auch so etwas gibt es im Krieg – schlug neben dem Erdbunker ein, vor dem er saß, um sich rasieren zu lassen. Als er sich hinwarf, streifte ihn der Splitter. Es war keine schwere Verwundung, sie heilte nach vier Wochen, er brauchte nicht einmal ins Reservelazarett, sondern blieb in der rückwärtigen Krankensammelstelle. Was ihn nur ärgerte, war die bald bestätigte Feststellung, daß es eine deutsche Granate war; ein deutsches Geschütz hatte zu kurz geschossen.
Das Mädchen auf dem Rad bewunderte die attraktive Narbe und kicherte etwas blöd, weil sie dabei auch Iwanows Nabel sah. Fjedor Pantelijewitsch zog sein Hemd wieder in die Hose und erhob sich. Der Wind zerzauste sein blondes Haar, und er dachte, daß er gut daran getan hatte, sich bei Oberst von Renneberg geweigert zu haben, seine Haare abschneiden zu lassen. Seine blonden Locken waren sein Schicksal.
»Ich muß zur Bahnstation«, sagte er. »Einen Onkel habe ich gesucht, aber nicht gefunden. Niemand kennt ihn hier. Vitali Platonowitsch Pupychew heißt er. So um die Sechzig muß er sein, der älteste Bruder meiner Mutter.«
»Hier gibt es keinen Pupychew«, sagte das Mädchen. »Völlig unbekannt.«
»Das habe ich auch erfahren. Und nun will ich zurück nach Moskau. Muß mich immer wieder bei der Ärztekommission melden. Die entscheidet, ob ich wieder zurück darf zu meinen Kameraden. Ha, ich will auch Berlin sehen!«
»Bis zum Bahnhof sind es noch neun Werst.« Das Mädchen kicherte wieder dümmlich. »Steig hinten auf … auf das Rad, meine ich!«
Iwanow steckte seine halb gegessene Zwiebel in die Tasche, schraubte die Feldflasche zu und setzte sich hinter das Mädchen auf den selbstgebastelten hölzernen Gepäckträger. Um sich festzuhalten, streckte er beide Hände vor und umklammerte die harten Brüste. Das Mädchen zuckte heftig zusammen, sein Körper versteifte sich, aber dann trat es in die Pedale und fuhr langsam über die holprige Straße. Es sagte nichts, schnaubte aber durch die Nase, als Iwanows Finger zu tasten begannen, und dann fuhr es Schlangenlinien, wie ein Betrunkener, und rief ab und zu: »Fedja, laß das sein! Ich falle herunter! Fedja, nicht doch, wir verpassen deinen Zug! Fedja, du bist verrückt …«
Iwanow und Pelageja – so hieß die Dralle – erreichten den Bahnhof von Dubna eine Stunde vor Einlaufen des Zuges nach Moskau. Es reichte, um ohne Zeitnot in einem alten Lagerschuppen und auf einer schmierigen Decke Pelegejas Freundlichkeit abzugelten und zu versichern, man werde wiederkommen, sollte die Ärztekommission feststellen, daß man doch nicht gesund genug sei, um nach Berlin zu marschieren. Mit einem seligen Lachen auf dem breiten Gesicht winkte Pelageja ihrem blondmähnigen Fedja nach, als der Zug abfuhr und Iwanow aus dem Fenster hing und Kußhändchen zurückwarf. Dann sank er auf die Sitzbank zurück, schloß die Fenster und blickte sich um. Das Abteil war voll, es stank nach Schweiß, alten Kleidern und warmem Urin. Auf dem Platz neben der Tür, bedrängt vom
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