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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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eure Taschen greift! Diese ganze Regierung ist ein Scheißhaufen!«
    Ein Mann, direkt vor ihm, hob seine Tasse und lachte schallend.
    »Prost, Opa!« rief er. »Willste einen Schnaps? Ich hol' dir einen. Du hast noch 'ne Menge Namen vergessen!«
    Die Leute jubelten. Kuehenberg riß sich von Wildeshagen los, der ihn festhalten wollte, und rannte hinüber zu den Fernfahrern.
    »Hört ihr?« schrie Kuehenberg. »Ihr sitzt hier gemütlich herum und freßt und sauft! Unterdessen bescheißt euch eure Regierung! Belogen werdet ihr, wie die Huren ausgenutzt! Verbrecher sind sie alle …«
    Einer der Fernfahrer griff nach hinten in die Kabine, holte eine Bierflasche hervor, ließ den Korken aufschnappen und hielt sie Kuehenberg hin.
    »Trink noch einen, Opa!« sagte er gemütlich. »Reg dich nicht auf! Leg dir 'n Taschentuch auf'n Kopp, die Sonne sticht! Komm, nimm 'n Schluck!«
    Tatsächlich nahm Kuehenberg die Flasche, setzte sie an den Mund und trank sie halb leer. Dann gab er sie dem Fernfahrer zurück, sagte ganz ruhig: »Danke. Das war der beste Schluck seit vierunddreißig Jahren!« und ging langsam zum Wagen zurück. Wildeshagen stand ziemlich bleich am Kühler, Lyra Pawlowna und Tamara warteten an ihren offenen Türen. Sie sahen ihm entgegen, als sei er gerade aus einer Irrenanstalt als unheilbar, aber nicht gemeingefährlich entlassen worden. Kuehenberg wischte sich den Schweiß aus den Augen und zog den Schlipsknoten etwas höher.
    »Das war nötig!« sagte er. »Begreifen Sie das, Wildeshagen?«
    »Nein.«
    »Wie könnten Sie auch! 1944 wäre das unmöglich gewesen – man hätte mich wegen Zersetzung an die Wand gestellt. Und später – vierunddreißig Jahre lang – war es auch unmöglich. Überall gab es Spitzel vom NKWD und später vom KGB, immer und überall war die politische Polizei dabei oder ein Ohr von ihr, immer gab es einen Genossen, der sofort einen Wink gab: ›Hört, da hat ein Bursche defätistische Reden geschwungen! Zieht ihn aus dem Verkehr!‹ Überall wehten die Fahnen, schrien die Spruchbänder, blickten die Augen der Großen von riesigen Plakaten. – Und jetzt? Niemand springt auf und hält mir den Mund zu. Keiner verhaftet mich! Sie sitzen da und lachen, statt mich zu verprügeln. Es kommt kein vergitterter Wagen, der mich abholt. Nichts, gar nichts geschieht, wenn ich mich unter die Menschen stelle und schreie: Schmidt ist ein Hohlkopf! Die Regierung ist korrupt! – Auch wenn es nicht stimmt … niemand reagiert darauf. Mein Gott, mein Gott …« Er lehnt sich gegen das Auto. »Ich bin wirklich in einer anderen, neuen Welt! Das wollte ich nur einmal wissen, sehen, hören, spüren …« Er atmete schwer und leckte sich die trocken gewordenen Lippen. »Wildeshagen, begreifen Sie jetzt, was diese Stunde hier für mich bedeutet? Ich habe einen Luftstrom von Freiheit verspürt. Ich bin ein freier Mensch!«
    Er wartete Wildeshagens Antwort nicht ab, setzte sich wieder auf seinen Platz, schnallte sich an und zog die Tür zu.
    »Jetzt können Sie schneller fahren!« sagte er, als sie wieder auf die Autobahn einschwenkten. Die Menschen auf dem Rastplatz winkten ihnen fröhlich nach. War das ein komischer Alter! Voll bis zum Kragenknopf! Und eine Stinkwut auf die in Bonn! Der war wie ein Dampfkessel, dem das Ventil platzt. »Fahren Sie so schnell, wie Sie wollen. Ich komme mir wie ein Vogel vor, der aus seinem Käfig in den weiten blauen Himmel fliegen darf.«
    Wildeshagen schwieg und drückte auf das Gaspedal. Der Zeiger des Tachos pendelte sich auf 180 km/h ein. Was vor ihm war, scheuchte er mit der Lichthupe zur Seite.
    Er ist doch mehr ein Russe als ein Deutscher, dachte er. Achtundzwanzig Jahre war er, als er in Rußland vermißt wurde. Jetzt ist er zweiundsechzig. Die längste Zeit seines Lebens war er Russe – man merkt es. Er denkt russisch, er fühlt russisch, er sieht russisch, er handelt russisch. Er glaubt nur, was er in der Hand hält, was er anfassen kann.
    Er wird es schwer haben, sich einzugewöhnen.
    Freiheit – das ist in erster Linie ein Ausdruck des Glaubens. Was Kuehenberg jetzt noch unter Freiheit versteht, hat es nie gegeben – und wird es auch nie geben.
    Bis Köln sprachen sie wenig. Sie bewunderten nur das Land, durch das sie fuhren. Die Städte seitlich der Autobahn, den erschreckenden Verkehr auf den Straßen und Autobahnen, die schnittigen Karosserien, das überwältigende Angebot an Süßigkeiten und Andenken in den Tankstellen und Raststätten. Die Speisekarte im

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