Sie waren zehn
Kaffeegeschirr stand darauf, eine Kanne mit einem Kaffeewärmer, Zigarren und Zigaretten, ein mächtiger Aschenbecher aus Onyx und eine Flasche französischen Kognaks mit zwei großen Napoleongläsern.
Ein Mann in Zivil, nicht in Generalsuniform, wie Kuehenberg erwartet hatte, erhob sich aus einem Sessel und kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.
»Asgard, alter Junge!« sagte der Mann. »Es gibt doch noch Wunder! Ich sehe dich wieder! Mensch, grau bist du geworden! Sag mal, bist du zusammengeschrumpft?! Ich hatte dich größer in Erinnerung.«
»Das gibt es doch nicht!« Kuehenberg blieb an der Tür stehen. »Halt! Komm nicht näher! Wenn du's bist, bist du fett geworden, mein Lieber. Damals hattest du eine Figur wie der Apoll von Belvedere. – Sag mal: ›General‹!«
»Jeneral.«
»Willy Hecht! Willy!«
Sie fielen sich um den Hals, drückten sich und gingen Arm in Arm zur Sesselgruppe.
»Darauf einen Kognak!« sagte Willy Hecht. »Jetzt bin ich selbst Jeneral, aber aussprechen kann ich's immer noch nicht. Setz dich, Junge. Mein Gott, wie lange ist das her?«
»Siebenunddreißig Jahre, Willy.« Kuehenberg nahm das Kognakglas und roch daran. »Die gleiche Marke wie damals?«
»Dir zu Ehren, Asgard. Prost!« Willy Hecht trank und ließ sich dann in einen Sessel plumpsen. »War das eine Zeit damals! Unvergeßlich! Ich möchte sie nicht missen.«
»Ich doch! Wenn ich heute zurückblicke – was waren wir doch für blinde Hirnlose! Wir haben alles geglaubt und waren bereit, für einen gigantischen Betrug zu sterben!«
»Ein halbes Menschenalter später kann man gut darüber philosophieren. Aber damals, als junge Offiziere, stand Begeisterung noch vor den Mädchen! Da gab es noch echte Freundschaften! Heute …« Willy Hecht winkte ab. »Karrieren! Nur noch Karrieren! Und jeder tritt dem anderen in den Sack, wenn er ihm im Wege steht. Im nächsten Jahr habe ich den Dienst hinter mir. Dann gehe ich als braver Zivilist spazieren, baue in meinem Garten Rosen an, spiele Boccia und sonne mich auf Teneriffa. Übrigens danke …«
»Wofür?«
»Daß du Köln als deine Heimatadresse bei der Aussiedlung angegeben hast.«
»Ich habe an dich gedacht. Zufall, Willy. Meine anderen Freunde stammten alle aus dem Baltikum.«
»Ihr wart zehn, nicht wahr?«
»Fang nicht auch damit an, Willy!«
»Ich weiß, der Bericht liegt vor.«
»Wildeshagen?«
»Ein guter Mann. Kaffee?«
»Bitte.«
»Du willst also nicht darüber sprechen?«
»Nein.«
»Du bist der einzige, der eines dieser letzten Rätsel des Krieges auflösen kann. Wir haben vom Bundesnachrichtendienst die Sache an uns genommen. Noch weiß der Amerikaner nichts von deiner Rückkehr. Erfährt er sie, wird er dich nicht mit Samtpfötchen anfassen. Er vermutet hinter Wildgänse eine dicke Sache von historischer Bedeutung.«
»Drücken wir es so aus: Sie hätte historisch werden können.«
Kuehenberg trank seinen Kaffee und knabberte am Kuchen. Sandkuchen. Nach Großmütterchens Art. Kindheitserinnerungen an Gut Thernauen. Die Terrasse zum Park hinaus. Säulengestützte Decke. Die Buchsbaumhecke zum Rosengarten, an den vier Ecken zu großen Kugeln geschnitten. Der Kiesweg zu den Pferdeställen und dem Abreiteplatz. Und Fräulein Selma, mit Spitzenschürzchen und gestärktem Häubchen. »Wollen dä gnädige Häär noch eyn Stückche Kuchen?«
1938. Livland. Göttlicher Frieden. Das Wort gab es nicht mehr. Ein Stück Paradies hatte sich mit der Welt vermengt.
»Wir kennen ›Unternehmen Adler‹, ›Barbarossa‹, ›Siegfried‹ … Jedes Unternehmen hatte seinen Namen und ist aktenkundig«, sagte Willy Hecht.
»Ud kostete Tausende von Toten. Einige sogar Millionen.«
» Wildgänse war intimer, nicht wahr?«
»Wir waren zehn.«
»Das wissen wir. – Aber was habt ihr gemacht?« General Hecht griff unter den Tisch. Aus einem Zwischenboden holte er das bekannte Aktenstück hervor. Geheime Dienstsache.
Wildgänse! Er schob Kognakschwenker und Kaffeetasse weg und legte die Akte vor Kuehenberg hin. »Willst du sie lesen?«
»Sie enthält unsere zehn Namen, den Führererlaß und eine Liste mit russischen Namen.«
»Zehn Plätze rund um Moskau. Da kann man dran fühlen!«
»Dann fühle, Willy.«
»Eure Personalakten sind verschwunden. Alle zehn.«
»Ich weiß.«
»Wir haben das verfolgt. Von den Divisionsstäben, aus allen Registraturen wurden eure Angaben zur Person zurückgezogen und landeten beim OKW! Dort übernahm sie Canaris. Nach dem Attentat auf
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