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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Autobahnrestaurant.
    »Das kann man alles essen?« fragte Tamara leise, als sei schon diese Frage verboten.
    »Alles. Was du willst«, sagte Kuehenberg.
    »Ohne sich anzustellen?«
    »Du siehst, man serviert es dir.«
    »Fleisch, soviel ich will?«
    »Bis du platzt, mein Engelchen.«
    »Wir sind im Paradies, Papuschka!«
    »Das wird sich zeigen.« Kuehenberg wandte sich an Wildeshagen. »Würden Sie Ihr Leben paradiesisch nennen?«
    »Nein, durchaus nicht.«
    »Ich glaube, ich kann Sie verstehen. Einmal wird man so satt sein, daß man nur noch rülpsen kann. Dann sehnt man sich nach Stille und Weite …«
    »Aus der Sie kommen, Kuehenberg.«
    »Aber ich hätte nie auf der Straße schreien dürfen: Breschnew ist ein Verbrecher!«
    »Wenn das Ihr höchstes Glück ist …«
    »Im Augenblick ja!« Kuehenberg trank ein kaltes, würziges Bier und aß dazu ein Schweinekotelett mit Pommes frites und einer Rose Blumenkohl. Tamara rang mit einem riesigen Porterhouse-Steak, Lyra Pawlowna aß selig eine große Roulade, mit Speck und Gurken gefüllt. Weihnachten, dachte sie. Das ganze Jahr Weihnachten. Mitten im Sommer ist Weihnachten für uns. Gott segne dich, Kyrill Semjonowitsch, liebes Väterchen, daß du uns nach Deutschland mitgenommen hast.
    »Aber es kann sein«, sagte Kuehenberg, »daß ich mich schneller akklimatisiere, als uns allen lieb ist.«
    Es war alles so, wie Wildeshagen es ihnen angekündigt hatte. Im Hotel ›Blum‹ in Köln wurden sie diskret und mit größer Höflichkeit empfangen. Keiner lachte über ihren Jutesack oder die Kunstlederkoffer, die billigen Kleider oder Kuehenbergs zerknitterten Anzug. Einer der Direktoren persönlich führte sie in den Stock des Hotels und zeigte ihnen die Zimmer. Lyra Pawlowna erinnerte sich an einen Besuch in Zarskoje Selo, dem Sommersitz des Zaren bei Leningrad. Vor zwölf Jahren hatte die städtische Straßenbahnverwaltung Moskau, Abteilung I bis III, einen Betriebsausflug nach Leningrad gemacht. Eine ganz große Sache, Genossen! Mit einem Charterflugzeug der Aeroflot von Moskau nach Leningrad, dann mit Sonderbussen in die Stadt und kreuz und quer in die Umgebung, von der Peter-und-Paul-Festung bis nach Zarskoje, dem sagenhaften Schloß. Alles hatte man ihnen gezeigt, die ganze Protzigkeit dieses Schlosses des Zaren, der damals das Volk ausgesaugt hatte wie ein Blutegel und unter Decken aus Zobelfell schlief. Seidentapeten gab es da und dicke Teppiche, auf denen man keinen Schritt mehr hörte. Wie auf Federn schwebte man dahin. Von den goldbemalten Decken hingen riesige Lampen herunter, alle aus geschliffenem Kristall, und dann die Möbel! Die Möbel! Welch ein Luxus! Ein Erlebnis war's, unvergeßlich, Genossen! So hatte also ein Mann leben können, der aus seinem Volk den letzten Rubel herausgepreßt hatte.
    Lyra Pawlowna wartete, bis man allein in den Zimmern war, und berührte dann scheu die Wand. Kuehenberg sah sie erstaunt an. »Was ist, Lyranja?«
    »Seide!« sagte sie. »Wahrhaftig Seide, wie in Zarskoje Selo! Und die Lampen! Kristall! Und die geschnitzten Möbel! Hat hier auch ein Zar gewohnt?«
    »Ich glaube nicht. Das ist ein ganz normales Hotel.«
    »Normal?«
    »Ja.«
    »Das sind unsere Zimmer?«
    »Wie du siehst.«
    »Man hat uns verwechselt, Kyrill Semjonowitsch.«
    Es dauerte fast eine Stunde, bis Lyra Pawlowna einsah, daß keine Verwechslung vorlag. Sie badete in der rosa Marmorwanne, zog ihr Sonntagskleid an, frisierte sich wie immer mit Bürste und Kamm und blickte nebenan bei Tamara herein. Das Töchterchen hatte sich schneller zurechtgefunden, saß am Fenster in einem der wertvollen Sessel, auch sie angezogen mit dem besten Kleid, und starrte erwartungsvoll auf die Tür.
    »Gleich muß er kommen«, sagte sie.
    »Wer?« fragte Lyra Pawlowna.
    »Der Kellner. Dort ist ein Telefon. Ich habe es abgehoben, und jemand hat gefragt: ›Haben Sie einen Wunsch, gnädige Frau?‹ – ›Ja‹, habe ich geantwortet. ›Bringen Sie mir einen Samowar!‹ – Ich bin gespannt, ob es klappt, Mamuschka …«
    »Ein dummes Kind! Welch ein dummes Kind!« rief Lyra Pawlowna. »Einen Samowar bestellt sie in Köln! Blamierst uns alle! Dein Vater wird rot vor Schande werden!«
    Sie zuckte zusammen. An der Tür klopfte es. »Jetzt kommen sie und lachen dich aus«, flüsterte Lyra. Aber laut rief sie: »Ja, bitte …«
    Ein Kellner öffnete die Tür und schob einen fahrbaren Tisch ins Zimmer. »Ihr Samowar, gnädige Frau –« sagte er und trat einen Schritt zur Seite.

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