Sie waren zehn
auf dem Weg nach Moskau, um sich bei der Zentralverwaltung zu melden. Wie man da nach Alexandrow kommt? Das muß natürlich erklärt werden, Genossin …
»Ich praktiziere nicht auf der Straße.« Die sanfte Stimme holte Duskow aus seinen herumwirbelnden Gedanken zurück.
»Wenn es im Auto besser geht …«, sagte Duskow und grinste verhalten. »Oder dort in Ihrer Praxis?« Er zeigte auf das schmucke Bauernhaus. Ein Arztschild fehlte, nicht einmal ein Rotes Kreuz war an die Tür gemalt. Kein Hinweis, daß hier ein Arzt wohnte. Aha, sie ist auf Patientenbesuch, dachte Duskow. »Schwerer Fall?« fragte er.
»Sie? Kaum! Außerdem ist das nicht mein Haus.«
»Darum frage ich: Schwerer Fall dort hinter der Tür?«
»Nein!« Sie sah ihn wieder forschend an. »Es ist mein Elternhaus. Ich habe meine Mutter besucht.«
»Welch ein Glück, ein Mütterchen zu haben.«
»Sie haben keins mehr?«
»Erschrecken Sie mich nicht. Natürlich habe ich ein Mütterchen. Ich sagte ja: Welch ein Glück!«
»Sie sind tatsächlich ein Idiot!« sagte sie sanft. Ihr Blick wurde förmlicher. »Ein großer Idiot!«
»Auch das sagte ich bereits. Wollen Sie mich in Ihre Praxis mitnehmen?«
»Ich arbeite in Moskau. An der Botkin-Klinik. Ich bin Chirurgin …«
»O nein!« Duskow streckte beide Hände abwehrend aus. Einen Schritt trat er zurück und rollte mit den Augen. »Das Loch in der Hüfte genügt mir! Ich möchte nicht, daß Sie mir noch etwas wegschneiden …«
Die Botkin-Klinik, dachte er schnell. Etwas außerhalb vom Moskauer Zentrum, im Blickfeld des großen Dynamo-Stadions. Die Leningradskoje-Chaussee teilt das große Gebiet. Die Botkin-1.-Straße mündet auf die Botkin-2.-Straße, und dort liegt der riesige Komplex des Krankenhauses. Eine der größten Kliniken der Welt. Bis zum Belorussischen Bahnhof sind es zu Fuß vielleicht fünfzehn Minuten, dann links ab ein paar Schritte, und man hat die Lesnaja uliza erreicht. Im Haus Nummer 19 wohnt Milda Ifanowna, unser erstes Ziel.
Milda Ifanowna, ein herrliches Mädchen bist du … Aber wie ganz anders ist diese unbeschreibliche Frau!
»Das ist gut!« sagte Duskow. Die Ärztin blickte ihn verblüfft an.
»Was ist gut?«
»Sie arbeiten in einem Ärzte-Kollektiv. Um in das Botkin-Krankenhaus eingeliefert zu werden, muß man viele Stationen durchlaufen, bis sie zu einem sagen: Bleib hier, du bekommst ein Bett! – Das ist gut, Genossin! Sie können nicht so ohne weiteres an mich heran! Das beruhigt mich ungemein!«
Die Ärztin antwortete nicht, ging um Duskow herum und öffnete die Wagentür. Über die Schulter hinweg fragte sie darauf: »Sie heißen Duskow. Es gibt keinen Duskow in Alexandrow. Wo kommen Sie her?«
Die Frage, auf die Duskow gewartet und sich vorbereitet hatte. Er trat neben die Ärztin, so nahe, daß er den ganz leichten Lysolgeruch wahrnahm, der aus ihrem Kleid kam, was bewies, daß sie dieses Kleid unter ihrem Arztkittel auch im Krankenhaus trug, und hielt ihr die Tür auf, wie ein Chauffeur, der seine Herrschaft einsteigen läßt.
»Aus Kasan komme ich …«
»Da haben Sie sich aber weit verlaufen.«
Sie setzte sich hinter das Lenkrad und umfaßte es mit beiden Händen. Sie hatte lange schlanke Finger, die zu ihren langen schlanken Beinen paßten. Alles an ihr ist Ebenmaß, dachte Duskow entzückt. Mit diesen Händen mußte sie phantastisch Klavier spielen können.
»Sie spielen Klavier?« fragte er.
»Ja!« Sie sah ihn erstaunt an. Zum erstenmal waren ihre schwarzen Augen keine obsidianglänzenden Lavastücke, sondern sprachen aus ihrer Tiefe heraus. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ihre Hände. Sie greifen leicht drei Oktaven.«
»Was verstehen Sie davon? Sagen Sie bloß, Sie können auch noch Klavier spielen?«
»Ein armer Idiot wie ich hat eine bewegte Geschichte, Genossin. Mein Vater ist Gleisarbeiter in Kasan, meine Mutter schuftet in einer Wäscherei, die vor allem das Dreckzeug aus den Arbeitslagern säubert. Meine Schwester ist schon Witwe, ihr Mann, der Nikita Ifanowitsch, war ein guter, fleißiger Mensch, aber leider soff er in jeder freien Minute und zerstörte damit seine Leber. Ich war der einzige Sohn, viel zu klug für diese Familie, sollte studieren, lernte bei dem Sarghändler von Nowo Rabinssk – das ist unser Wohnort bei Kasan – das Klavierspielen und begleitete mit zwölf Jahren schon die aufgebahrten Toten, wenn man ein ganz feierliches Begräbnis wünschte. Meistens spielte ich ›Wie das Glöckchen traurig klingt …‹ Die
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