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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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er.
    Sassonow antwortete nicht. Er wußte, daß der Zeitpunkt gekommen war. Mit einem schnellen Griff riß er die Giftkapsel aus seiner Rocktasche, aber Kutusow kam ihm zuvor, schlug den Arm zur Seite, ergriff ihn und drehte ihn im Schultergelenk brutal nach hinten. Sassonow schwollen die Adern an der Stirn, aber er gab keinen Laut von sich, ließ auch die Kapsel nicht los und verkrallte seine Faust, als Kutusow in wilder Entschlossenheit in seine Hand biß.
    »Was machen Sie da?!« brüllte Omelko entsetzt. »Makar Prokojiewitsch, sind Sie irre geworden?!«
    In Sassonows Faust zerquetschte die Kapsel. Ein scharfer Mandelgeruch hing plötzlich in der Luft. Kutusow unterließ das Beißen, ruckte noch einmal an Sassonows Arm, kugelte ihn aus und stieß mit dem Kinn gegen Sassonows Schädel. Da erst öffnete sich die Faust, ein paar Tropfen fielen auf den Boden. Der Mandelgeruch verstärkte sich. Kutusow rannte zum Fenster, riß es auf und starrte Sassonow an. Hilflos hing dieser jetzt auf dem Stuhl, unfähig, an seine Hand zu kommen und den Rest der Blausäure abzulecken. Ob es noch tödlich gewesen wäre, war zweifelhaft.
    »Rufen Sie den NKWD, Oleg Abramowitsch!« schrie Kutusow und hielt Sassonow, der aufspringen wollte, fest. »Das hier ist ein deutscher Offizier! Bodo von Labitz! Ich kenne ihn gut! In Args gehörte ihnen eine Fabrik, ich war dort technischer Zeichner, bis sie mich hinauswarfen! Ich hatte kommunistische Flugblätter verteilt, sie wollten mich in ein KZ bringen, aber ich konnte fliehen! Das ist er! Ein deutscher Offizier!«
    »Ein deutscher …« Omelko seufzte, schluckte und starrte Sassonow ungläubig an. Dann begriff er, daß ausgerechnet in seinem Kombinat etwas Ungeheuerliches vorgefallen war, und daß nun der NKWD den ganzen Betrieb auf den Kopf stellen würde, um vielleicht noch mehr Spione zu finden. Was dabei an anderen Entdeckungen abfiel, war nicht auszudenken. Ein schlechtes Gewissen hat jeder, und ein um so größeres, je höher die Stellung ist.
    »So ein Schwein!« sagte Omelko aus tiefer Brust. Er sprang auf, rannte um den Schreibtisch herum und verabreichte Sassonow drei Fausthiebe auf die Nase. Die Haut platzte auf, das Nasenbein zerbrach mit einem knackenden Laut, Blut stürzte über Sassonows Mund und Kinn und lief den Hals hinunter in das Hemd.
    »Den NKWD!« schrie Kutusow unbeherrscht. »Schlagen Sie ihn bloß nicht tot, Oleg Abramowitsch. Wir brauchen ihn! Ich ahne es, aus dem ist noch vieles herauszuholen!«
    Sie verzichteten darauf, Betriebsalarm zu geben, ließen Sassonow mit seinem blutenden Gesicht auf dem Stuhl sitzen, und während Omelko die Zentrale des NKWD in Moskau anrief, um gleich an oberster Stelle einen guten Namen zu bekommen, stand Kutusow vor Sassonow und achtete darauf, daß er zu keiner Überraschung ansetzte. Er konnte zum Beispiel aus dem Fenster springen.
    Sassonow verhielt sich still. Sein ausgekugelter Arm wurde nach dem anfänglichen Schmerz wie taub. Seine Nase schwoll an, er mußte durch den Mund atmen und wischte sich mit der freien linken Hand das Blut ab. NKWD. Er wußte, was ihn erwartete, aber er wußte auch, daß er sich den Verhören entziehen mußte. Die Methoden dieser Befragung waren bekannt. So heldenhaft war kein Mensch, um sie stumm zu ertragen. Irgendwie und irgendwo auf dem Weg nach Moskau oder in der Zelle des NKWD würde es eine Möglichkeit geben, die Panne mit der Zyankalikapsel auszugleichen. Wenn man sich töten will, gibt es immer einen Weg.
    Ich komme also doch nach Moskau, dachte er mit bitterem Sarkasmus, während Omelko ihn mit hochrotem Gesicht beschimpfte und Kutusow ihn mit beiden Händen auf der Schulter niederdrückte, als könne Sassonow jetzt noch aufsässig werden. Wie mag es den anderen neun ergangen sein? Es ist wie bei dem alten Kinderlied, das ich von der Oma, einer geborenen Gräfin Hachburg , gelernt habe: Zehn kleine Negerlein … Jetzt sind es nur noch neun … Oder sind es noch weniger?
    Omelko tobte in seinem Zimmer herum, das Herz voller Furcht, der NKWD könne entdecken, daß einige Tonnen Stahl heimlich gegen Lebensmittel eingetauscht worden waren. So ein richtiger schöner Ringtausch, angefangen bei einem Baugeschäft, das Miniereisen brauchte, bis zu einer Kolchose, die einen neuen Silo errichtete. Im Sekretariat hockte Lisa Nikolajewna mit runden Kulleraugen verschreckt hinter ihrer Schreibmaschine und verstand die Welt nicht mehr. Der nette Pawel Fedorowitsch ein deutscher Spion? Ein Nazi-Offizier?

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