Sie waren zehn
Wer kann das begreifen?!
In der Moskauer NKWD-Zentrale hatte man mit unbegreiflicher Ruhe die Meldung aus Perowo entgegengenommen. Omelko wunderte sich über den Gleichmut der Genossen. Eine fast gelangweilte Stimme sagte: »Gut! Wir schicken einen Wagen zu Ihnen. Was macht der Deutsche? Er blutet? Das ist gut. Können Sie ihn einsperren? Was? Sie lassen ihn bei Ihnen im Zimmer? Auch gut! Halten Sie den Vorfall geheim. Keine Informationen!«
Es dauerte drei Stunden, bis zwei Autos mit NKWD-Beamten eintrafen. Drei endlose Stunden, in denen sich Omelko heiser schimpfte, Sassonow die grausamsten Strafen androhte oder ihn – er konnte sich nicht beherrschen – gegen das Schienbein trat, was ja nicht tödlich ist. Kutusow hatte ihm ausführlich erzählen müssen, was damals in Args geschehen war. »Aha!« und »Oho!« schrie er abwechselnd. »So einer ist er?! Ein von und zu, wie ein Bojare! Ein Ausbeuter der Arbeiter? Einer von der Herrenrasse, dem man die Stiefelspitzen lecken soll! – Sie werden dich schon kleinkriegen, die Genossen aus Moskau! Wie eine Haselmaus wirst du piepsen! – Was willst du hier bei uns? Woher hast du die Papiere? Wie kommst du an die Stempel der 1. Russischen Front? Seit wann geisterst du durch Rußland?!«
Sassonow gab keine Antwort. Sein ausgekugelter Arm starb von den Fingerspitzen an ab. Kutusows Ruck mußte auch einen Nerv oder eine Vene eingeklemmt haben; Sassonow wußte nicht, ob das möglich war, aber er hatte das Gefühl, daß sein rechter Arm schon nicht mehr zu seinem Körper gehörte. Meistens saß er mit geschlossenen Augen da. Wenn er sie öffnete, war Kutusows Gesicht vor ihm. Die kalten Augen beobachteten jede seiner Bewegungen.
Fast erlöst atmete Sassonow auf, als die Männer aus Moskau ins Zimmer traten und ihn umringten. Die Aussicht, schnell zu sterben, vergrößerte sich.
Ein Mann, der sich als Major vorstellte, lehnte sich gegen den Schreibtisch und las zunächst Sassonows hervorragende Papiere. Dann betrachtete er die zerquetschte Zyankalikapsel, die Kutusow auf ein Blatt Papier gelegt hatte, schnupperte vorsichtig daran und schob sie weg.
»Sie sind Offizier?« fragte er auf russisch.
Sassonow blickte ihn mit trüben Augen an.
»Ja.«
»Sie heißen?«
Es hatte keinen Sinn, in Gegenwart von Kutusow falsche Angaben zu machen. »Bodo von Labitz …«, sagte er.
»Dienstrang?«
»Major.«
»Welcher Truppenteil?«
Sassonow schwieg. Der NKWD-Major wartete, zuckte dann mit den Schultern und blieb höflich, was Omelko nicht begriff.
»Wie sind Sie nach Perowo gekommen?« fragte er weiter. »Was ist Ihr Auftrag? Warum sollten Sie gerade im Kombinat arbeiten?« Omelko stöhnte qualvoll, um sein Entsetzen zu dokumentieren. »Sind Sie Mitglied der deutschen Abwehr!? Haben Sie Ihren Auftrag von Admiral Canaris?«
Sassonow schwieg. Er legte den Kopf weit in den Nacken und starrte an die Decke. Jetzt sollte man ihm einfach die Kehle durchschneiden, dachte Omelko , vor Wut fast verrückt. So schön sitzt er da … Wie provozierend sein Kehlkopf tanzt! Der Major vom NKWD schien mit einer Beantwortung seiner Fragen gar nicht gerechnet zu haben. Er nickte Sassonow geradezu freundlich zu und wäre enttäuscht gewesen, wenn er etwas von ihm gehört hätte. Man hatte in Moskau Erfahrung mit solchen Fällen; solche Männer mußte man aufknacken wie eine Kokosnuß. Auch an die Kokosmilch kommt man nur heran, wenn man ihr den Kopf abschlägt. Die Methoden des Verhörs waren beim NKWD bis zur Perfektion entwickelt worden. Irgendwo hat auch der härteste Wille eine Grenze, an der die Qual unerträglich wird und jeder Aufschrei der Wahrheit eine Erlösung bedeutet.
»Kommen Sie mit!« sagte der NKWD-Major höflich zu Sassonow. »Unternehmen Sie keinen Fluchtversuch. Er ist keine Garantie für einen schnellen Tod. Wir werden Ihnen immer nur in die Beine schießen. Sie sehen, wir kennen die Mentalität unserer Gegner. Können Sie gehen?«
»Ja.« Sassonow erhob sich von seinem Stuhl. Ein NKWD-Mann stützte ihn, als er schwankte. Der ausgekugelte Arm war noch nicht tot, ein unsagbarer Schmerz durchstach seine Schulter. »Mein Arm«, sagte er wie zur Entschuldigung.
»Ein Arzt wird sich um Sie kümmern. Aber erst in Moskau.«
»Ich werde es aushalten!« sagte Sassonow. Er torkelte zur Tür, stützte sich auf die Schulter des NKWD-Mannes und drehte den Kopf zu Kutusow. »Das war Pech, Makar Prokojiewitsch …«
»Ich war das meinem Vaterland schuldig!«
»Es macht Ihnen keiner
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