Sie waren zehn
Achtung vor dem Proletariat, und blickte Sassonow nach, wie er zu dem Paternoster ging, in eine vorbeischwebende Kabine sprang und nach oben entschwand.
Zimmer Nummer 339 beherbergte das Sekretariat des Personalleiters. Da macht auch ein russisches Kombinat keine Ausnahme: Der Weg zu leitenden Genossen führt immer über die Schreibstube. Und dort sitzt – o Einigkeit der Industrie – entweder ein hübsches Mädchen hinter der Schreibmaschine oder ein häßliches. Die alte Erfahrung ist's: Je unscheinbarer die Sekretärin, um so wachsamer war die Frau des Chefs!
Der Personalleiter des Stahlkombinats ›Maxim Gorkij‹ von Perowo schien ein Junggeselle zu sein. Seine Schreibkraft pflegte trotz aller kriegsbedingten Mängel ihr Blondhaar mit Lockenschere und Aufhellmitteln und hatte sogar, im vierten Kriegsjahr, ihre Lippen geschminkt, was geradezu ungeheuerlich war. Sassonow begrüßte sie mit verhaltenem Charme und nannte seinen Namen.
»Lisa Nikolajewna«, antwortete sie. Ein Zwitschern war's, als singe ein Vögelchen auf einem Ast. Sassonow blinzelte ihr zu. »Kann man den vielbeschäftigten Genossen sprechen, Lisa? Ich bin der neue Ingenieur, zugewiesen vom Kommando der 1. Weißrussischen Front. Marschall Rokossowskij hat mir persönlich die Hand gedrückt.«
Lisa Nikolajewna strahlte ihn an, schürzte die roten Lippchen , erhob sich und verschwand hüftenschwingend im Nebenraum. Sassonow hörte Stimmen und bereitete sich auf seinen Auftritt vor. Er strahlte vor Sicherheit. Die Papiere waren vollkommen. Übersät mit Stempeln und Unterschriften. So etwas sieht auch der Personalleiter eines Stahl-Kombinats selten.
Lisa kam wieder in das Sekretariat, ließ die Tür offen und winkte ihm. Ihre runden blauen Augen kullerten wie bei einer Puppe. »Sie können herein, Pawel Fedorowitsch.«
Mit festen Schritten betrat Sassonow das Zimmer des Personalleiters. Er war nicht allein … ein zweiter Mann stand am Fenster und starrte Sassonow an. Und dieser andere Mann lähmte Sassonow für ein paar Sekunden. Der Schrecken war zu groß, die Überraschung zu massiv, als daß Sassonow anders reagieren konnte als durch ein Zögern in seinen Beinen. Dann war der Schock vorbei, er ging weiter und holte dabei seine Papiere aus der Rocktasche.
Die Welt ist erbärmlich klein, dachte er. Gab es für ihn keinen anderen Platz als gerade Perowo?! Keinen anderen Fleck auf dieser Erde als das Büro von ›Maxim Gorkij‹? Mußte er gerade heute hier am Fenster stehen? Warum müssen wir uns begegnen, Makar Prokojiewitsch Kutusow?!
Ihre Blicke begegneten sich, nur eine Sekunde lang, und das Klirren des Aufeinanderpralls war nur in ihren Seelen wahrnehmbar. Dann reichte Sassonow seine Papiere über den Tisch. Der Personalleiter überflog sie, von den Stempeln sichtlich beeindruckt. »Wir freuen uns über Ihr Kommen, Pawel Fedorowitsch!« sagte er und zeigte auf einen Stuhl. »Ich bin Oleg Abramowitsch Omelko , und das ist der Zweite Technische Leiter Makar Prokojiewitsch Kutusow. Sie werden in seiner Abteilung arbeiten …«
»Nein!« sagte Kutusow hart. Er stieß sich vom Fenster ab und starrte Sassonow mit zusammengezogenen Brauen an. Er ist es also doch, dachte Sassonow und fühlte es in sich eiskalt werden.
Mein Gefühl! Ein Bett suchen und schlafen. Nicht alles an einem Tag! Morgen hätte Kutusow nicht hier im Zimmer gestanden. Mit der Zeit geizen, Oberst von Renneberg, ist nicht immer der Weisheit bester Schluß. Hier trifft deutsche Tüchtigkeit auf russisches Zeitgefühl! Ich hätte heute mehr ein Russe sein müssen – mit der Begabung des Wartens …
Sassonow blieb hinter dem angebotenen Stuhl stehen. Omelko starrte Kutusow betroffen an und schüttelte wortlos den Kopf. Gleich wird er von seinem Erstaunen erlöst sein, dachte Sassonow. Kameraden, ich melde mich ab. Hauptmann von Baldenow – nein Leonid Germanowitsch Duskow – übernehmen Sie jetzt das Kommando! Macht's gut, Jungs … besser als ich! Und wenn du jemals nach deinem Vater fragen solltest, William Heiko, mein kleiner Sohn, und keiner dir etwas von ihm sagen kann, dann ahne wenigstens, daß dein Vater gestorben ist in einem Einsatz, der einmalig war in diesem Krieg!
»Wo kommen Sie her, Baron von Labitz?« fragte Kutusow genüßlich auf deutsch. Er sprach hart wie alle Russen, aber perfekt in Grammatik und Satzbau. Omelko starrte beide dümmlich an und setzte sich schwer in seinen Holzsessel hinter den Schreibtisch.
»Bin ich verrückt?« stotterte
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