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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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meine Haare entgegen, und die stinken ja nach ranziger Seife …«
    »Lyraschka!« sagte Boranow zärtlich. »Vergessen wir vieles, was gesagt worden ist … Ein wirklich glücklicher Mensch bin ich jetzt zu dieser Stunde. Geben Sie mir das Rad!«
    Er nahm es aus ihrer Hand, schwang sich in den Sattel, und Lyra setzte sich hinter ihn und schlang die Arme um seinen Leib, was man tun muß, um nicht wegzurutschen. Die Berührung mit ihr durchfuhr Boranow wie ein Feuerkeil, der sich vom Hirn bis in die Zehenspitzen bohrte. Er holte tief Atem und seufzte dabei.
    »Wo geht es hin?!« rief er mit vor Glück belegter Stimme. »Nach Grusinien, an den Amur, ans Eismeer oder durch die Taiga? Jeden Wunsch erfülle ich Ihnen, Lyra Pawlowna! Nennen Sie das Ziel!«
    »Ein gelbgestrichenes Haus in der Poltekava uliza . Sie haben noch ungefähr neunzehn Minuten Zeit.«
    »Wozu?«
    »In neunzehn Minuten wird mein Vater Sie aus dem Haus prügeln. Eine Freude wird das sein! Ha, welch eine Freude!«
    Man erwarte nichts Außergewöhnliches … Väterchen Sharenkow schlug Kyrill Semjonowitsch natürlich kein blaues Auge. Zurückhaltend war er dennoch, denn die Familie Sharenkow erlebte zum erstenmal, daß Töchterchen Lyra einen Mann in die Wohnung brachte. Marja Iwanowna, die Mutter schob deshalb Lyra sofort in die Küche, während Vater Pawel Ignatiewitsch bedauerte, dem Gast nichts anderes anbieten zu können als kalten Tee, gesäuert mit einem synthetischen Zitronenextrakt.
    »Wie steht es an der Front?« fragte er. »Man hört so wenig. Wann sind die Deutschen am Ende? Kann es noch lange dauern? Erzählen Sie, Kyrill Semjonowitsch, erzählen Sie! Wie sieht die Lage aus der Sicht des Frontkämpfers aus?«
    Boranow berichtete, was man hören wollte. Man war zum Marsch auf Berlin angetreten, auch wenn noch das halbe europäische Rußland, Polen und Westpreußen dazwischen lagen. »Nicht aufhalten kann man uns, wenn wir erst marschieren!« sagte er. »Wir erdrücken sie einfach, die Deutschen! Ein Jammer, daß ich nicht mehr dabei bin.«
    »Sie werden sich hier erholen, Kyrill Semjonowitsch.«
    »Bestimmt. Aber die Kugel, die mir in der Schulter sitzt, neben der Lungenarterie, die erholt sich nicht. Keiner wagt es, sie mit dem Messer herauszuholen. Starren auf das Röntgenbild, zeigen mit Bleistiften auf den dunklen Fleck, sagen: ›Ha, da sitzt das Biest!‹ und runzeln dann die Stirn. ›Inoperabel. Sie müssen damit leben, Genosse.‹« Boranow blickte hoch. Mütterchen Marja kam mit Lyra aus der Küche und brachte runde Plätzchen, die als Notvorrat in einer hohen Blechdose aufbewahrt worden waren. Die Plätzchen waren trocken, hart und schmeckten etwas muffig. Lyra vermied es, Boranow anzusehen – sie hatte rote Backen und schien in der Küche eine heftige Diskussion mit Marja Iwanowna gehabt zu haben.
    »Sie sind ein gebildeter Mann, Pawel Ignatiewitsch«, fuhr Boranow fort. »Darf ich Sie fragen: Welche Auswirkungen hat so eine Kugel im Körper, die keiner herausholen will? Je mehr ich darüber nachdenke, um so größer werden meine Angstgefühle. Wie ist das, wenn ich an einem Magneten vorbeigehe? Klebe ich dann sofort daran wie eine Fliege am Leim? Oder bei Gewitter, Pawel Ignatiewitsch? Mir wird angst und bange! Eisen zieht die Blitze an … Ist es möglich, daß in mich ein Blitz einschlägt?!«
    »O Himmel!« sagte Lyra leise und betroffen. »Das habe ich nicht gewußt. Sie haben mir nichts davon erzählt.«
    »Wie konnte ich.« Boranow grinste breit. »Ich stand doch im dauernden Kampf um meinen Sitzplatz in der Straßenbahn.«
    »So überfüllt war sie?« fragte Väterchen Sharenkow ahnungslos. »Warum haben Sie nicht gerufen: Platz da! Hier kommt ein Invalide!«
    Boranow fing einen flehenden Blick von Lyra auf und nickte kaum merklich. Keine Sorge, mein Täubchen, mit dir war es die schönste Straßenbahnfahrt meines Lebens. Du hast mich gegen das Schienbein getreten, du hast mich angebrüllt, bedroht, schikaniert und beleidigt, man kann dir bescheinigen, du hast dich mit Krallen und Zähnen gegen mich gewehrt, warst eine wilde, fauchende Katze … aber es hat alles nichts genutzt. Jetzt sitze ich hier auf einem alten Sessel, trinke bitteren Tee und knabbere muffige Plätzchen, und Väterchen Pawel findet mich sympathisch. Lyranja, man sollte deine Straßenbahn bekränzen und Rosen auf deinen Sitz streuen!
    »Haben Sie keine Angst, Kyrill Semjonowitsch«, sagte Sharenkow und klopfte Boranow auf das Knie. »Weder ein Magnet

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