Sie waren zehn
Kopeken auf das Zahlbrett legte, sagte sie mit verschleierter Stimme: »Zum Teufel, wo bleiben Sie?!«
»Eine Limonade habe ich getrunken! Die Zunge klebte mir am Gaumen. Erstaunlich, wie Sie das durchhalten, Lyraschka …«
»Wir haben neun Minuten Verspätung!«
Boranow setzte sich auf seinen Stammplatz und schlug die Beine übereinander. »Dann aber los!« sagte er und schickte ein inniges Lächeln zu Lyra Pawlowna. Sie fing es mit einem heftigen Stoß ihres Herzens auf und entging anderen Reaktionen, indem sie Boranow brüsk den Rücken zukehrte. »Zwischen den Stationen 7 und 10 und 14 und 18 können wir die Zeit wieder herausholen!«
Bei dieser Fahrt war es Lyra, als sei ihr sonst harter Fahrersitz mit Wolken gepolstert.
Man soll nicht sagen, Frauen seien wie Kartenhäuser: man tippt sie an, und schon fallen sie um. Das wäre ungerecht und trägt nicht ihrer seelischen Beschaffenheit Rechnung, vor allem, wenn sie mit wilden Zweifeln ringen und sich letztlich für das entscheiden, was ihrem Herzen am wohlsten tut.
Niemand hätte von Lyra Pawlowna erwartet, daß sie nach Ende ihrer Dienstzeit Boranow nicht einfach stehenließ und sich entfernte. Genau das Gegenteil war der Fall. Sie brachte die Übergabeverhandlungen mit der Kollegin von der Spätschicht so schnell wie möglich hinter sich und schielte mit einem Auge ständig zur Straße, ob Boranow noch wartete. Er tat es, vertrat sich die Beine, rollte sich eine Zigarette aus Tabakresten und grinste erfreut, als Lyra mit umgehängter Ledertasche auf ihn zukam.
»Ich habe meine Kollegin gewarnt«, sagte sie abweisend. »Wenn Sie weiter hin und her fahren, werden Sie von der Miliz in eine Anstalt gebracht! Ihr Verhalten ist eine Provokation!«
»So habe ich das noch nicht gesehen.« Boranow kratzte sich den Nasenrücken. »Aber bei genauer Betrachtung könnte man so etwas glauben. Dem muß man entgehen, Genossin. Ich gehorche Ihnen. Ich stelle meine Straßenbahnlust ein. Aber was nun tun? Wie soll ich ohne Ihr Klingeln leben?«
»Wer sind Sie eigentlich?«
»Ich heiße Kyrill Semjonowitsch Boranow.«
»Das interessiert mich nicht.«
»Sie haben gefragt …«
»Ich wollte wissen, wo man Sie abliefern muß!« Sie holte einen Kamm aus der Tasche, fuhr sich damit schnell durch das Haar und sah ihrer Straßenbahn nach, die unter neuer Leitung zur nächsten Fahrt ansetzte. »Sie scheinen viel Zeit zu haben.«
»Ich könnte damit handeln.«
»Jede unproduktiv verschenkte Stunde schadet dem Volk und nützt dem Feind!«
»Parole Nummer 10! Aber kennen Sie auch Nummer 22? – Freundschaft erhöht die Produktivität! – Das ist ein Spruch, Lyra Pawlowna!«
Sie blieb ernst, zeigte auf das Wachhaus der Endstation und nestelte an ihrer ledernen Schaffnertasche. »Ich fahre jetzt nach Hause«, sagte sie. »Hoffentlich sehe ich Sie nie wieder. Dieser Tag war genug!«
»Sie fahren! Womit? Wieder mit der Straßenbahn?«
»Mit einem Fahrrad.«
»Das ist grandios!« rief Boranow enthusiastisch. »Sie müssen wissen: Ich bin ein berühmter Radfahrer! Mit siebzehn Jahren habe ich meine erste Meisterschaft erstrampelt . Noch nie etwas gehört von dem ›Adler von Nowgorod‹? Die Menschen standen am Straßenrand, wenn ich an ihnen vorbeisauste, und besabbelten sich vor Freude. 1939, im Sommer, beim Rennen von Smolensk, kam es zu einer Fehlgeburt, als ich durchs Ziel fuhr. Ein Junge. Man taufte ihn sofort Kyrill – mein Name –, und ich übergoß das Knäblein mit dem Rest meiner Wasserflasche … Lyra, davon haben Sie nichts gehört? Aber nein, das ist ja nicht möglich! Da waren Sie ja erst fünfzehn. Und 1940, in Minsk, welch ein Tag! Da wurde ich als Sieger von der Tochter des obersten Sowjets geküßt. Ein zartblondes Mädchen. Nach dem Kuß verlor sie den Verstand und wollte nicht mehr ohne meine Hose schlafen …«
»Man sollte Sie in kaltes Wasser legen!« sagte Lyra steif. »In eiskaltes! Gehen Sie mir aus dem Weg!«
»Darf ich Sie nach Hause fahren?«
»Mit dem Rad? Als ›Adler von Nowgorod‹?«
»Nein, als Kyrill Semjonowitsch. Als Ihr Kyrill!«
»Warum sterben Sie nicht vor Aufgeblasenheit?!« Sie ging mit schnellen Schritten zu dem Wachhaus, holte aus einem Abstellraum ein altes Herrenfahrrad und hängte ihre große Schaffnertasche an den Lenker. Das Rad war rot lackiert und sah sehr stabil aus.
Boranow rieb sich die Hände. »Wo wollen Sie sitzen? Auf dem Rahmen oder hinten auf dem Gepäckträger?«
»Auf dem Rahmen nicht! Da wehen Ihnen
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