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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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geht …«
    Man kann mit der Straßenbahn von einem Ende zum anderen Ende ihrer Strecke fahren, dazu ist sie da, dafür hat man bezahlt, ihre Aufgabe ist die anonyme Personenbeförderung. Trotzdem verlor die Schaffnerin Lyra Pawlowna Sharenkowa Geduld und Nerven, als der aufsässige Fahrgast, der neben ihr hinter der Trennwand zum Fahrersitz hockte und sie anstarrte, als sei sie etwas Unanständiges, auf keiner Station ausstieg, sondern ihr fröhlich zunickte, wenn sie ihn auffordernd anblickte.
    Kurz vor der Endstation streckte sie den Kopf um die Trennwand herum und fauchte Boranow an. Erschrocken weiteten sich seine Augen, als sei er ein gescholtenes Kind.
    »Haben Sie Leim am Gesäß?« zischte sie.
    »Das wäre neu.« Boranow lüftete seinen Hintern und strich mit der flachen Hand über seinen Hosenboden. »Ich kann vermelden: nichts dergleichen, Schwesterchen!«
    »Ich bin nicht Ihr Schwesterchen! Warum steigen Sie nicht aus?«
    »Muß ich das? Mir gefällt es in der Straßenbahn! Das Rattern über die Schienen, das Bimbim der Glocke. Man sitzt hinter einer Scheibe und kann die Menschen und die Häuser beobachten … ein wahres Vergnügen ist das! Schon als Kind bin ich für mein Leben gern Straßenbahn gefahren. Und immer waren die Schaffnerinnen besonders lieb zu mir; ich war ein ausgesprochen süßes Kind! Lange blonde Löckchen wehten im Wind – es blieb gar nichts anderes übrig: man mußte mich liebhaben!«
    Lyra Pawlowna verzichtete darauf, sich weiter in eine Unterhaltung mit dem offensichtlich leicht idiotischen Fahrgast einzulassen, klingelte ab und fuhr weiter. Sie erreichten die Endstation, ein großes, gepflastertes Rondell, auf dem noch zwei andere Straßenbahnen aus anderen Richtungen eine Ruhepause von zehn Minuten einlegten, ehe sie die Strecke wieder zurückfuhren und dem Gegenzug begegneten. Die letzten Fahrgäste stiegen aus, nur Boranow blieb sitzen und rührte sich auch nicht, als Lyra von der Straße her in der Tür erschien.
    »Endstation!« rief sie. »Schluß! Räumen Sie den Wagen!«
    »Ich fahre wieder zurück.« Boranow ließ die Geldstücke auf der Handfläche hüpfen. »Fünfzehn Kopeken … stimmt's?«
    »Sie sollen 'rauskommen!«
    »Aber ich fahre doch gleich weiter.«
    »Es ist den Fahrgästen verboten, während der Ruhepause im Wagen zu bleiben!« schrie Lyra Pawlowna.
    Sie kletterte die zwei Stufen hoch und blieb vor Boranow stehen. Ihre großen Augen waren wie Feuerkohlen. »Das hat seinen Grund! Der Wagen soll auslüften! Solange Sie da sitzen, stinkt er.«
    »Das überzeugt!« Boranow erhob sich, schnupperte in Richtung von Lyras schönen braunen Haaren, deren Spitzen in der Sonne rötlich schimmerten, und schüttelte den Kopf. »Die Seife ist's! Jetzt hab ich es! Das Fett ist ranzig.«
    Lyra Pawlowna öffnete den Mund, ließ ihn offen und starrte Boranow entgeistert an. Es machte ihr offensichtlich Mühe, zu begreifen, was der Kerl da von sich gab. »Mein Haar?« sagte sie endlich. »Ich rufe Pawlow drüben von der Linie 3 zur Hilfe!«
    »Ist er der Lieferant der Seife? Und riecht es nicht? Leidet der arme Genosse an einem Dauerschnupfen?«
    »Ein blöder Mensch sind Sie! Steigen Sie aus, oder wollen Sie hinausgetrieben werden?«
    »Ich bin ein friedfertiger Mensch«, sagte Boranow, verließ die Straßenbahn und reckte sich in der Sonne. Lyra Pawlowna schloß den Wagen ab, eilte mit weiten Schritten zu einer Art Wartehäuschen und schloß sich in der Toilette ein. Dort betrachtete sie sich in dem blinden, durch einen Riß verunstalteten Spiegel, feuchtere ihre Fingerspitzen an, strich damit durch ihr Haar und roch an den Händen.
    Nichts.
    Sie versuchte es noch einmal, kämmte sich dann und verließ mit zusammengepreßten Lippen das Wachhäuschen. Boranow unterhielt sich mit dem Schaffner der Linie 3 und erfuhr dabei, daß Lyra Pawlowna Sharenkowa ein besonderes Exemplar von Weib war, erst zwanzig Jahre alt, aus gutem Haus – ihr Vater war Architekt, die Mutter Lehrerin –, und daß sie bei der Straßenbahn arbeitete, weil ein Onkel als Schreiber in der Verwaltung saß und ihr diesen guten Posten besorgt hatte. Über ihr Privatleben wußte der Kollege von der Linie 3 nichts zu berichten. Verlobt war sie nicht, das war sicher, aber ob sie einen Freund habe, das wage man nicht zu behaupten. »Voll Saft ist sie«, sagte der Schaffner von Linie 3. »Man sieht's ja! Aber nie spricht sie über sich selbst. Leiden jetzt alle Not, die Vögelchen. Die Hähne sind selten

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