Sie waren zehn
geworden.«
Nach zehn Minuten stand Boranow wieder an der Tür der Straßenbahn . Lyra saß schon auf dem Fahrersitz, aber sie gab den Einstieg noch nicht frei. Das Spiel wiederholte sich, jedoch warteten hier nur sieben Fahrgäste auf das Kommando, den Wagen zu erstürmen.
»Sehen wir das einmal tief menschlich«, setzte Boranow zu einem Vortrag an und versammelte damit die Wartenden um sich, was Lyra mit tiefem Mißfallen wahrnahm. »Gibt es ein schöneres Gefühl, als andere zu kommandieren? Laßt euch erzählen, wie das so ist: Einen Leutnant hatte ich, bei der Ausbildung in Nowgorod. Oje, war das ein scharfer Hund. Wenn uns der Schweiß in Strömen über den Körper rann, brüllte er freudig: ›Da sparen wir ja Wasser! Ihr wascht euch ja von selbst! Brave Leute!‹ Und dann jagte er uns noch mehr, bis wir umfielen. Ermorden hätten wir ihn können. Doch werde ich eines Morgens weggeschickt, um bei ihm zu Hause einen Brief abzugeben. Er hatte dienstfrei, und wie ich an sein Haus komme, erschreckt mich eine keifende Weiberstimme. Und mein Leutnant steht in Hose und Hemd hinter dem Haus, zerschlägt auf einem Hauklotz Baumstämme zu Scheiten, und hinter ihm steht sein Weib und nennt ihn einen schlaffen Schwanz. Das Schönste aber: Er schwitzt. Schwitzt, daß seine Haut in der Sonne wie mit Diamanten übersät glitzert. Leid hat er mir da getan. Ich habe begriffen, warum er uns so mitleidlos über das Feld gejagt hat …« Boranow wischte sich über die Stirn. Die Zuhörer nickten ergriffen. »Ein Mensch lädt auf und entlädt sich, wie eine Batterie, liebe Genossen. Seid deshalb unserer Schaffnerin nicht gram; sie befindet sich im Stadium der Entladung.«
Pawlowna nahm das nicht hin. Mit der Faust schlug sie auf die Klingel, schrie »Einsteigen! Die Zeit ist um!« und fauchte Boranow, der als letzter an Bord kam, giftig an: »Wohin?«
»Für fünfzehn Kopeken, liebe Freundin.«
»Wohin?!«
»So weit man kann. Nächste Endstation … oder bis an den Rand der Welt! Mit Ihnen fahre ich überallhin. Eine Schwäche habe ich für freundliche Menschen, Lyra Pawlowna.«
»Woher wissen Sie meinen Namen?«
»Der Kollege von Linie 3 …«
»Ein zahnloser Schwätzer! Die Kopeken her!« Boranow gab ihr das Geld, sie zählte es nach und blickte ahnungsvoll hoch. »Das sind dreißig!«
»Für die Rückfahrt, Lyraschka …«
»Ich werfe Sie aus dem Wagen!«
»Das wäre wider die Beförderungsbedingungen. Wer bezahlt, hat ein Recht auf Transport. Ausnahmen sind nur in Notfällen möglich. Wenn jemand in den Wagen kotzt, gegen die Wände pinkelt, sich sogar hinhockt und …«
»Ein Schwein sind Sie.«
»Auf keinen Fall gehört zu den Notfällen, daß man die Schaffnerin hübsch findet und sich nicht von ihr trennen kann. Ich habe ausgerechnet, Lyra Pawlowna: Bis zum Dienstschluß kann ich mit Ihnen vier Rubel verfahren haben. Für vier Rubel darf ich Sie stundenlang ansehen. Das ist fast ein geschenktes Vergnügen. Hat Ihnen das noch niemand vorgerechnet?! Nein, so etwas! Sind in Moskau alle Männer blind?!«
Lyra antwortete nicht, nahm fünfzehn Kopeken, warf die anderen fünfzehn auf den Boden und ließ die Straßenbahn abfahren. So lernte Boranow auf angenehmste Art Moskau kennen, fuhr quer durch die Riesenstadt, zwar immer nur die gleiche Strecke, an der er bald jedes Haus kannte, aber er hatte Zeit, über seine weiteren Unternehmen nachzudenken. Als freundlicher Mensch unterhielt er sich mit anderen Fahrgästen, machte Lyra darauf aufmerksam, daß am Fenster eines grauen Steinhauses ein nackter Mann stand und sich abtrocknete, was fast zu einem Verkehrsunfall geführt hätte, weil Lyra zu Boranow herumfuhr, ihn mit »Sau!« anschrie und dabei einen Radfahrer übersah, der leichtfertig die Schienen kreuzte. Und an den Endstationen bezahlte Boranow seine fünfzehn Kopeken für eine weitere Fahrt. Dagegen gab es kein Mittel. Lyra Pawlowna war machtlos, schäumte vor Zorn und kam nur aus dem Gleichgewicht, als Boranow an der Endstation I nach viermaligem Hinundherfahren plötzlich verschwand.
Lyra wartete in ihrer Straßenbahn, starrte ungeduldig, dann mit bebenden Lippen auf die Uhr, umklammerte den Elektrohebel, spürte ein schweres Herzklopfen und riskierte es, um sechs Minuten den Fahrplan zu überschreiten. Dann bemächtigte sich ihrer eine wilde Unruhe, völlig unerklärlich war sie dem Weinen nahe – und als Boranow endlich auftauchte, aus dem Wartehaus, und pfeifend den Wagen bestieg und seine fünfzehn
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