Sie waren zehn
bebt nur alle!« rief Sharenkow voll vaterländischer Begeisterung. »Verbergt nicht eure Erschütterung vor diesem großen Tag: Man redet von vierzigtausend Deutschen! Vierzigtausend Verfluchte werden wir sehen! Unvorstellbar! Unvorstellbar!«
Er aß seine Suppe, zog die Sauerkrautfäden durch seine Zähne, trank einen Schluck Kwaß, spülte damit seine Mundhöhle aus und rieb sich die Hände in wohltuender Zufriedenheit.
»Das sehen wir uns an, Papuschka!« sagte Lyra Pawlowna.
»Aber ja! Ja! Das müssen wir sehen. Das muß jeder Sowjetbürger sehen! Die Geschäfte sollen schließen, die Betriebe nicht arbeiten, alle Kinder werden an den Straßen stehen. Die ganze Welt wird daran teilnehmen. Filmen wird man es. Alle Lügen der Nazis werden zusammenbrechen. Mit diesen Bildern werden wir es beweisen! Natürlich sehen wir uns das an! Nur Menschen mit niedriger Gesinnung bleiben da zu Hause!«
Sharenkows Informationen bewahrheiteten sich. Am 16. Juli gab es in Moskau kein anderes Thema als den Marsch der deutschen Kriegsgefangenen durch die Stadt. Die Zeitungen riefen zur Teilnahme auf, aus dem Radio tönte die verlesene Rede Stalins. Er rechnete mit den deutschen Lügen ab, wonach die sowjetische Offensive in ihrer Durchschlagkraft gebrochen sei, die Verluste der Russen ein solches Ausmaß erreicht hätten, daß sie nur noch zögernd vorwärtsstürmten, daß die deutschen Divisionen noch in voller Kampfbereitschaft seien und der alle russischen Pläne vernichtende Gegenstoß unmittelbar bevorstünde.
»Wir werden zeigen, wo die Wahrheit liegt!« hieß es in den Zeitungen. »Lügen haben kurze Beine, sagt man. Das stimmt nicht mehr: Lügen haben siebenundfünfzigtausend Beine! Denn morgen wird siebenundfünfzigtausendmal bewiesen werden, daß Hitler-Deutschland von den Landkarten verschwinden wird.« Ja, man rechnete bereits mit siebenundfünfzigtausend …
Sepkin bekam die Zeitung von dem Vorarbeiter des Krematoriums, dem ob seines Schicksals unzufriedenen Gavrilo Kusmanowitsch Zischlow. Sepkin las die Artikel mit steigender Wut, wartete, bis Zischlow gegangen war, schloß hinter ihm die Tür und schraubte seinen Absatz ab. Viermal funkte er zu Milda Ifanowna, aber die Kabakowa meldete sich nicht. Auch am Abend erreichte er nichts. Zwar nahm Milda seinen Ruf auf, aber sie antwortete wie immer: ›Zero –‹
»Du dämliche Kuh!« sagte Sepkin, blind vor Zorn. Dafür empfing ihn nach Dienstschlug sein zukünftiges Schwiegerväterchen Puschkin und benahm sich wie ein tanzender Derwisch. Wie immer wartete er in der Eingangshalle, und kaum daß er Sepkin kommen sah, hüpfte Puschkin herum und schrie schon von weitem:
»Hast du es gelesen? Hast du es gehört? Eine ganze deutsche Armee lassen sie durch Moskau ziehen! In die erste Reihe stellen wir uns und spucken sie an!«
Auch Jelena Lukinischna reagierte nicht anders, als Puschkin und Sepkin in die Wohnung kamen. Sie hockte vor dem Radio und schien sich vollgesaugt zu haben mit den patriotischen Reden.
»O Piotr!« rief sie und fiel Sepkin um den Hals. »Mein lieber, lieber Petja … Wird man die deutschen Ungeheuer hinterher erschießen?!«
Sepkin senkte den Kopf, gab dem süßen Geschöpf, das er über alle Maßen liebte, einen Kuß auf die Stirn und schloß sich in der Toilette ein. Dort steckte er den Kopf unter den kalten Wasserstrahl, ließ das emaillierte Becken vollaufen und tauchte ihn ganz unter. Es war die einzige Möglichkeit, das Gefühl loszuwerden, sein Schädel könne zerspringen …
Am 17. Juli 1944 glich Moskau einer toten Stadt. Die meisten Geschäfte hatten geschlossen, in den Betrieben arbeitete nur ein Notdienst, drei Regimenter Rotgardisten sperrten die Straßen ab, durch die der Zug der deutschen Kriegsgefangenen geführt werden sollte. Der Autoverkehr kam völlig zum Erliegen; bis auf die vielen, zu Filmplattformen umgebauten Lastwagen, auf denen Kameras standen und Haufen von Fotoreportern aus der ganzen Welt, hatte die Miliz alle Fahrzeuge in Seitenbezirke abgedrängt. Ljudmila Dragomirowna kommandierte eine Miliz-Einheit, die den Vorplatz des Kursker Bahnhofs absperrte. Der kleine Plejin, der sich mit seiner Sergeantenuniform nicht bei den Miliz-Einheiten sehen lassen konnte, fuhr mit der Metro zur Lesnaja uliza und schlüpfte in das Haus Nummer 19.
Bei Milda Ifanowna traf er vier schwindsüchtige Dichter und einen einäugigen Komponisten, die ihn schnell anblickten, denn Milizbesuch im Haus gehörte zu den unbeliebtesten
Weitere Kostenlose Bücher