Sie waren zehn
Ereignissen. Milda tat denn auch so, als sei alles ein Irrtum, begleitete Plejin ins Treppenhaus und zischte dort:
»Sind Sie verrückt? Kolka, wie kommen Sie in diese Uniform? Von Ihrer Ljudmila besorgt, nicht wahr? Wenn Sie kontrolliert werden, können Sie Ihre Zyankali-Kapsel schlucken!«
»Mich kontrolliert keiner«, sagte Plejin, seiner sehr sicher. »Wo sind die anderen?«
»Was sollen sie hier?« Milda drängte ihn zur Treppe. »Auch wir stellen uns gleich an die Straße …«
»Es ist fürchterlich, Milda Ifanowna!« Plejins Gesicht war bleich und erschreckend gealtert. »Siebenundfünfzigtausend Kameraden … Herumgeführt wie eine riesige Ochsenherde …«
»Berührt Sie das, Kolka?« Milda Ifanowna blickte ihn mit einem Kopfschütteln an und gab ihm einen Puff in den Rücken, damit er endlich ging. »Sind Sie nicht Nikolai Antonowitsch Plejin, ein Sowjetbürger?«
Plejin atmete laut auf, nickte und lief die Treppe hinunter auf die Straße. Am Belorussischen Bahnhof stauten sich die Zuschauer schon zu dichten Reihen, zehnfach hintereinander.
Eine Kette Gardisten sperrte die Straße ab. Kosaken auf ihren schnellen Pferdchen trabten mit klirrenden Hufen über das Pflaster und riefen in die Menge: »Bald kommen sie! Nur Geduld! Haben sich schon aufgestellt! Werdet euch wundern …«
Von einem Lastwagen mit großen Lautsprechern schallte Marschmusik über die Menschenmassen. Ein Lastwagen mit einem Podest auf dem Dach, auf dem sich zwei Filmkameras drehten, fuhr langsam an den Wartenden vorbei und filmte sie. Auch Plejin kam für eine Sekunde ins Bild, als die Kamera über ihn hinwegschwenkte.
Und dann war es soweit. Die Rusakowskaja uliza hinunter, vom Skolniki -Feld kommend, wälzte sich ein grauer, breiter, unendlich scheinender Wurm aus Köpfen, Leibern und Füßen heran.
Vorweg fuhr eine Autokolonne. Filmwagen, Lastwagen mit Militär, Limousinen mit hohen sowjetischen Offizieren, denen man grundlos zujubelte, denn es waren Generalstäbler und keine tapferen Helden, die an der Gefangennahme der Deutschen beteiligt gewesen waren. Ihnen folgte eine Abteilung Kavallerie. Blitzäugige Kosaken auf tänzelnden Gäulchen. Sie lachten in die Menge; man sah ihnen an, wie stolz sie waren.
Die Sharenkows mit Boranow, den Lyra Pawlowna um die Hüfte gefaßt hatte, führten sich auf, als gelte es, einen Zug Zirkuselefanten zu bestaunen. Sie standen in der ersten Reihe vor dem Platz des Jaroslawler Bahnhofs. Hier mußten die Deutschen greifbar nahe vorbeikommen, denn zwei Filmwagen hatte man hier postiert, um das imposante Bild einzufangen, wie die grauen Kolonnen an sommerlich heiteren russischen Menschen und dem palastähnlichen Bahnhof vorbeimarschierten. Gardisten bildeten eine Kette, hatten sich untergefaßt und drängten die Menschen zurück, die nach vorn stießen, als die gefangene deutsche Armee sichtbar wurde.
Um diesen Platz hatte es noch Krach gegeben. Sharenkow, sonst ein stiller, höflicher Mensch und, wie es sich für einen Beamten geziemt, jedem Streit in weitem Bogen ausweichend und nur in den eigenen Wänden ein herrschender Patriarch, schrie mit sich überschlagender Stimme derbste Worte, als eine Babuschka mit einem Stuhl kam, sich durch die Reihen drängte und sich ausgerechnet vor Sharenkow niederließ. »Hört ihn an!« schrie die Babuschka zurück. Eine gedrungene Frau war sie, trug trotz der sommerlichen Hitze ein eng um den Kopf geschlungenes Tuch und Röcke bis auf die Erde. »Hört ihn nur! Schreit eine arme Frau an! Wird rot im Gesicht wie ein balzender Hahn! Will mich wegdrängen, mich, die ich zwei Söhne geopfert habe! Jawohl, zwei große stramme Burschen haben mir die Deutschen totgeschossen! Trotzdem mißgönnt er mir den Platz, Genossen! Hindert mich, die Mörder meiner Kinder anzusehen! Hilft mir denn keiner gegen diesen rabiaten Kerl?!«
Sharenkow erregte sich so, daß er nach Atem schnappte wie ein an Land gespülter Fisch. Erst als die ersten Kosaken herantrabten und die Ankunft der Deutschen ankündigten, versöhnte sich Sharenkow mit der bebenden Babuschka, nannte sie ein gutes Mütterchen und blickte dann Boranow triumphierend an.
»Da marschieren sie!« rief er und streckte weit den Arm aus. »Welch ein Bild! Welch ein Bild! Unvergeßlich!«
Die endlose Marschsäule näherte sich. In Dreißigerreihe rückten sie heran: barhäuptig oder mit Schiffchen und Feldmütze, mit offenen, verdreckten, staubgepuderten Uniformen, mit eingefallenen, stoppelbärtigen
Weitere Kostenlose Bücher