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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ihm gesagt. Ich fühle mich heute so deprimiert. Jemand ist gestorben. Jemand, der mir sehr wichtig war. Paul fragte, wer, und Gary hatte resigniert geantwortet: Van der Valk. Paul hatte gehört, wie er von der Tür weggegangen war, und wenngleich er erneut geklopft hatte, hatte Gary nicht mehr geantwortet. Van der Valk, stellte sich heraus, war die Figur eines Detektivs, den der Schriftsteller Nicolas Freeling erfunden - und dann beseitigt - hatte.
    Paul war davon überzeugt gewesen, dass Garys Reaktion mehr als falsch gewesen war; er fand, sie war prätentiös und affig gewesen. Kurz gesagt, eine Pose. Diese Meinung behielt er bis 1983 bei, als er Garp und wie er die Welt sah las. Er machte den Fehler, die Stelle zu lesen, wo Garps jüngster Sohn den Tod fand, indem er von einem Schalthebel aufgespießt wurde, kurz bevor er zu Bett ging. Es dauerte Stunden, bis er einschlafen konnte. Diese Szene wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Während er sich herumwälzte und hin und her warf, dachte er mehr als einmal, wie unsinnig es war, um eine literarische Gestalt zu trauern. Denn Trauer war natürlich genau das, was er empfand. Diese Erkenntnis freilich hatte ihm nicht geholfen, und das hatte ihn zu der Überlegung gebracht, ob es Gary Ruddman mit Van der Valk damals nicht vielleicht doch ernster gewesen war, als Paul ihm zugestehen wollte. Und das hatte eine weitere Erinnerung ans Tageslicht gebracht: wie er mit zwölf Jahren an einem heißen Sommertag William Goldings Herr der Fliegen zu Ende gelesen hatte. Er wollte in die Küche gehen und sich ein Glas
Limonade aus dem Kühlschrank holen … aber dann hatte er plötzlich die Richtung geändert und war erst verhalten, dann immer schneller ins Bad gerannt, wo er sich über die Toilette beugte und sich übergab.
    Plötzlich erinnerte sich Paul noch an andere Beispiele dieser seltsamen Manie: Wie die Massen jeden Monat die Docks von Baltimore belagerten, wenn die Zeitschriften mit den neuesten Folgen von Mr. Dickens’ Klein Dorrit oder Oliver Twist geliefert wurden (einige Leute waren ertrunken, was die anderen aber nicht abgehalten hatte); die alte Frau von einhundertundfünf Jahren, die strikt erklärt hatte, sie werde so lange weiterleben, bis Mr. Galsworthy die Forsyte-Saga fertig geschrieben hatte - und weniger als eine Stunde nachdem ihr das letzte Kapitel vorgelesen worden war, gestorben war; der junge Bergsteiger, der mit einem angeblich tödlichen Fall von Unterkühlung im Krankenhaus lag und dessen Freunde ihm rund um die Uhr Der Herr der Ringe vorgelesen hatten, bis er aus dem Koma erwachte; Hunderte weiterer solcher Vorfälle.
    Jeder Verfasser von »Bestsellern« kannte, wie er vermutete, sein eigenes Beispiel oder seine eigenen Beispiele radikaler Leseridentifizierung mit den erdachten Welten, die der Schriftsteller erschafft … Beispiele des Scheherazade-Komplexes, dachte Paul jetzt, halb träumend, während das Brummen von Annies Rasenmäher in weiter Ferne an-und abschwoll. Er erinnerte sich, er hatte zwei Briefe bekommen, die den Bau von Misery-Themenparks vorschlugen, etwa von Disney World oder Great Adventure. Einem dieser Briefe hatte sogar ein grober Entwurf beigelegen. Aber die Gewinnerin der Goldmedaille (wenigstens bis Annie Wilkes in sein Leben getreten war) war Mrs. Roman
D. Sandpiper III aus Ink Beach, Florida, gewesen. Mrs. Roman D. Sandpiper, deren Vorname Virginia war, hatte ein Zimmer im Obergeschoss ihres Hauses in Miserys Salon verwandelt. Sie hatte Polaroidfotos von Miserys Spinnrad, Miserys Sekretär (inklusive eines unvollständigen Briefes an Mr. Faverey, in dem zu lesen stand, dass sie am 20. November beim Vortrag in der Aula der Schule zugegen sein würde - in einer, wie Paul fand, seiner Heldin unheimlich geschickt nachempfundenen Handschrift, nicht die rundliche, fließende Handschrift einer Dame, sondern energische, nur vage feminine Lettern); Miserys Couch, Miserys Poesiealbum (Lass Dich von der Liebe leiten, maße Dir nicht an, die Liebe zu leiten) etc. etc. Die Möbel, stand in Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpipers Brief, waren alle echt, keine Imitationen. Paul konnte es nicht mit Sicherheit sagen, ging aber davon aus, dass es stimmte. Wenn ja, dann musste dieses teure Stückchen Scheinwelt Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper Tausende Dollar gekostet haben. Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper hatte sich beeilt, ihm zu versichern, dass sie seine Heldin nicht benutzte, um Geld zu verdienen, sie habe auch - da

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