Sie
konnte … das alles zählte nicht, das alles waren lediglich Schatten hinter den Schmerzen. Er würde sich jedem Problem stellen, wenn er ihm gegenüberstand, oder er würde sterben. Das war alles.
Wenn er sich bewegte, sank das Feuerband unterhalb der Taille und in den Beinen noch tiefer ein, es umspannte seine Beine wie Gürtel, die mit glühenden, nach innen gerichteten Stacheln versehen waren. Aber der Rollstuhl bewegte sich. Sehr langsam begann er, sich zu bewegen.
Er war etwa anderthalb Schritt weit gekommen, als ihm klar wurde, dass er den Rollstuhl lediglich an der Tür vorbei und sinnlos in die Ecke des Zimmers rollen würde, wenn es ihm nicht gelang, ihn zu drehen.
Er umklammerte das rechte Rad und erschauerte,
(denk an die Tabletten, denk an die Erlösung durch die Tabletten)
dann drückte er es so heftig nach unten, wie er konnte. Gummi quietschte kaum hörbar auf dem Boden wie das Piepsen von Mäusen. Er drückte noch einmal, seine einstmals kräftigen Muskeln zitterten wie Gallert, seine Lippen zogen sich über die zusammengebissenen Zähne zurück, und der Rollstuhl drehte sich ganz langsam herum.
Er umklammerte beide Räder und brachte den Stuhl wieder ins Rollen. Dieses Mal kam er anderthalb Meter weit, bevor er seine Richtung wieder korrigieren musste. Nachdem er das bewerkstelligt hatte, wurde ihm schwarz vor Augen.
Fünf Minuten später schwamm er in die Wirklichkeit zurück und vernahm wieder die leise, anstachelnde Stimme des Sportreporters im Kopf: »Er versucht weiterzumachen! Ich kann gar nicht glau -ben, was dieser Sheldon für einen Mumm hat!«
Der vordere Teil seines Verstandes kannte nur die Schmerzen; es war der hintere Teil, der seine Augen dirigierte. Er sah sie nahe bei der Tür und rollte darauf zu. Er streckte die Hand danach aus, aber seine Fingerspitzen reichten nur bis eine Handbreit über den Boden, wo eine ihrer Haarnadeln hingefallen war, als sie ihn angegriffen hatte. Er biss sich auf die Lippen und bemerkte gar nicht, wie der Schweiß ihm über Gesicht und Nacken lief und das Pyjamaoberteil dunkel färbte.
»Ich glaube nicht, dass er an diese Nadel rankommt, Leute - es war eine fan- tas -tische Leistung, aber ich fürchte, nun ist Schluss.«
Nun, vielleicht nicht.
Er ließ sich im Rollstuhl ein wenig nach rechts kippen, wobei er zunächst nicht auf die Schmerzen in der rechten Seite achtete, Schmerzen, die sich wie eine ständig anschwellende Druckblase anfühlten, nicht unähnlich einem eingewachsenen Zahn -, aber dann gab er nach und schrie. Wie sie gesagt hatte, war ohnehin niemand da, der ihn hören konnte.
Seine Fingerspitzen waren immer noch eine Handbreit vom Fußboden entfernt, sie glitten nur knapp über der
Haarnadel dahin, und die rechte Seite seiner Hüfte fühlte sich nun tatsächlich an, als würde sie gleich in einer Eruption aus ekelhafter, weißer Knochenmasse explodieren.
O Gott bitte bitte hilf mir …
Trotz der Schmerzen neigte er sich noch weiter hinüber. Seine Finger berührten die Nadel, schoben sie aber lediglich einen Fingerbreit weiter. Immer noch nach rechts gebeugt, glitt Paul im Rollstuhl ein wenig nach unten und schrie erneut wegen der Schmerzen in den Beinen. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen, sein Mund stand offen, die Zunge hing zwischen seinen Zähnen herunter wie die Zugschnur an einer Jalousie. Speichel tropfte ihm aus dem Mund und fiel auf den Boden.
Er klemmte die Haarnadel zwischen die Finger … versuchte sie zu greifen … hätte sie um ein Haar fallen lassen … dann hatte er sie sicher in der geballten Faust.
Als er sich aufrichtete, führte das zu neuerlichen Schmerzen; danach konnte er eine ganze Weile nichts anderes tun, als dazusitzen und zu keuchen, seinen Kopf so weit nach hinten geneigt, wie es die harte Lehne des Rollstuhls zuließ. Die Haarnadel lag auf dem Brett über den Armlehnen des Rollstuhls.
Eine Weile war er sich ganz sicher, dass er sich erbrechen würde, aber dieses Gefühl ließ irgendwann nach.
Was tust du?, schalt ein Teil seines Verstandes nach einer Weile erschöpft. Wartest du darauf, dass die Schmerzen nachlassen? Werden sie nicht. Sie zitiert immer ihre Mutter, aber deine Mutter hatte schließlich auch ein paar kluge Sprüche auf Lager, nicht wahr?
Ja. Hatte sie.
Während er dasaß, den Kopf zurückgelegt, das Gesicht schweißnass und glänzend, das Haar an der Stirn klebend, sagte Paul einen dieser Sprüche laut auf wie einen Zauberspruch: »Es gibt vielleicht Feen, es gibt
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