Sieben
betete zu Gott, daß er mich bald mit dem Jungen bekannt machte, von dem ich überzeugt war, er sei nur dazu auf der Welt, mir ein Gefährte, Beschützer und Mitverschwörer zu sein.«
»Aber sie haben es nie zugelassen, nicht wahr?« fragte Doyle, den die Vorstellung erschreckte. »Erst nach zwei Jahren unbarmherziger Drängelei und sechsmonatigem Feilschen: Ich durfte ihm nie Briefe schreiben oder welche von ihm annehmen; ich durfte nie mit ihm allein sein. Ich habe eifrig jede Bedingung akzeptiert, die man mir stellte. In diesem Jahr machten wir den Osterbesuch im Internat meines Bruders gemeinsam. Ich war sechs. Alexander war zwölf. Wir begrüßten uns steif, schüttelten uns die Hand. Er war ein eindrucksvoller Bursche; hochgewachsen, kräftig, mit schwarzem Haar und fesselnden Augen. Auf mich wirkte er wie die Seele der Kameradschaft. Unsere Eltern ließen uns zwar keine Sekunde allein, doch nach ein paar Stunden, in denen er eine derart freundliche und offenherzige Freude über unsere Anwesenheit zur Schau gestellt hatte, ließ ihre Wachsamkeit auf dem Rückweg vom Dinner durch den Park nach. Als wir vor ihnen um eine Hecke bogen, zog Alexander mich aus ihrem Blickfeld, drückte mir einen Brief in die Hand und drängte mich, ihn um jeden Preis vor unseren Eltern zu verbergen und erst dann zu lesen, wenn ich absolut allein sei. Dann gab er mir einen polierten schwarzen Stein - einen Talisman, von dem er mir versicherte, er sei sein am höchsten geschätzter Besitz, und von dem er unbedingt wollte, daß ich ihn bekam. Ich akzeptierte die Bedingungen seines Angebots mit Freuden und verheimlichte meinen Eltern zum ersten Mal in meinem Leben bereitwillig ein Ereignis von großer Wichtigkeit. Damit war der erste Keil zwischen uns getrieben; ein winziger Spalt hatte sich geöffnet, der zuvor nie existiert hatte, aber all das hatte mein Bruder bewußt geplant.«
»Was stand in dem Brief?«
»Das übliche naive Schuljungengeschwätz - der tägliche Ablauf seines Lebens, der in prosaischen Einzelheiten wiedergegeben wurde: Siege und Drangsale im Klassenzimmer und auf dem Sportplatz. Anekdoten über die bunte Vielfalt seiner Mitschüler. Was ich selbst von der Schule zu erwarten hatte. Ratschläge, wie man mit Lehrern und Mitschülern umging und all dies im Tonfall des klügeren, welterfahreneren Bruders, der einem jungen Schützling, der sich am Vorabend seines eigenen Bildungsweges befindet, Ratschläge erteilt. Der Brief war in einem behaglich vertrauten Tonfall geschrieben, als hätten wir uns schon immer gekannt. Er war freundlich, großzügig, ausgeglichen und auch ein wenig witzig kurz gesagt, es war genau der Brief, den ich vom idealisierten Bruder meiner Fantasie zu erhalten erhofft hatte. Er enthielt nichts Offenkundiges, das meine Eltern verärgert haben würde, hätten sie ihn je gefunden was ich natürlich zu verhindern trachtete. Er enthielt kein Selbstmitleid und beweinte auch nicht die Tatsache, daß unsere Eltern ihn sich vom Halse geschafft hatten. Er beschwerte sich nicht über ihr mangelndes Interesse. Ganz im Gegenteil. Er schrieb mit größter Rücksicht und Zuneigung von ihnen, war dankbar für die Chance, die sie ihm an dieser wunderbaren Schule gegeben hatten; drückte aus, wie stolz er sie eines Tages machen würde und wie er sich danach sehnte, ihnen ihre Güte eines Tages tausendfach zu vergelten. Erst im letzten Absatz zeigte sich der Haken, den er rund um die Fiktion gesponnen hatte. Der Findungsreichtum, das Nichtvorhandensein von Groll auf meine Eltern, seine aufrichtige Offenheit über unsere gegenseitige Entdeckung alles Beweise für eine gerissene, listige, außergewöhnliche Persönlichkeit. Erst im letzten Absatz wurde die gesamte Bandbreite seines bösartigen Genies deutlich.«
»Wie lautete er?«
»›Obwohl klar erscheint, daß wir uns allen schwierigen Prüfungen des Lebens allein stellen müssen, gibt mir schon das Wissen, daß du lebst, lieber Bruder, die geheime Kraft, die ich stets gesucht habe, um weiterzumachen.‹« Sparks sprach die Worte leise und mit gewichtiger Exaktheit aus. »Die stoische Tapferkeit, die angedeuteten, doch unbenannten schwierigen Prüfungen - wie überdimensional, wie opernhaft sie in meiner Fantasie wurden - und die Andeutung, daß ich, der kleine Siebenjährige, den Schmerz dieses glänzenden Exemplars irgendwie hätte lindern können, war für meinen frisch geprägten Geist unwiderstehlich. Ich war viel zu naiv, um einem solchen Appell zu
Weitere Kostenlose Bücher