Sieben Erzaehlungen
meinem Notizbuch habe ich ausgerechnet, daß ich, wenn alles gut geht, ihn bei Fortsetzung meiner Reise nicht vor vierunddreißig Jahren wiedersehen kann. Ich werde dann zweiundsiebzig Jahre alt sein. Aber ich beginne, mich müde zu fühlen, und wahrscheinlich wird mich der Tod eher erreichen. So werde ich ihn nie wiedersehen können.
In vierunddreißig Jahren (vielmehr eher, viel eher) wird Domenico unverhofft die Lichter meines Lagers erblicken, und er wird sich fragen, warum denn ich in der Zwischenzeit nur eine so kurze Strecke zurückgelegt habe.
Wie am heutigen Abend wird der gute Bote mit den altersvergilbten Briefen eintreten, die mit unverständlichen Nachrichten einer schon begrabenen Zeit beladen sind, an der Schwelle aber wird er verharren, wenn er mich unbeweglich auf dem Lagerliegen sieht, tot, an den Seiten zwei Soldaten mit Fackeln.
Und doch, Domenico, reise, und sag mir nicht, ich sei grausam! Richte meinen letzten Gruß der Stadt aus, in der ich geboren wurde. Du bist das einzig übrig gebliebene Band mit der Welt, welche vor zeiten auch die meine war. Die letzten Boten ließen mich wissen, daß vieles sich verändert hat, daß mein Vater gestorben und die Krone an meinen älteren Bruder übergegangen ist, daß ich zu Hause als verschollen gelte, daß neue Paläste aus Stein errichtet wurden, wo früher Eichen standen, unter denen ich als Kind immer spielte. Aber doch ist es stets mein altes Vaterland.
Mit ihnen bist du mein letztes Band, Domenico. Der fünfte Bote, Ettore, der mich, so Gott will, in einem Jahr und acht Monaten erreichen wird, wird nicht zurückreisen können, weil nicht mehr genügend Zeit zur Umkehr zur Verfügung stehen würde. Nach dir das Schweigen, mein Domenico, es sei denn, ich fände schließlich doch die ersehnte Grenze. Aber je mehr ich vordringe, umso mehr wächst meine Überzeugung, daß eine Landesgrenze nicht existiert.
Es gibt nicht, so argwöhne ich, eine Grenze, zum mindesten nicht im Sinne, den anzulegen wir gewöhnt sind. Es existieren keine trennenden Mauern, keine Grenztäler, keine den Zugang verschließenden Gebirge. Vielleicht werde ich die Grenze überschreiten, ohne es auch nur zu merken, und ohne es zu wissen weiterziehen. Deshalb meine ich, daß Ettore und die anderen Boten nach ihm, wenn sie mich erreicht haben, nicht den Weg zur Stadt einschlagen, sondern vor mir her weiter reisen sollen, so daß ich im Voraus erfahre, was mich erwartet. Eine ungewohnte Unruhe überfällt mich seit einiger Zeit des Abends, und nicht mehr ist es das Bedauern über entgangene Freuden, wie in den ersten Zeiten der Reise, vielmehr die ungeduld, die unbekannten Länder kennen zu lernen, die vor mir liegen.
Ich glaube zu spüren - noch habe ich es niemandem anvertraut - ich glaube zu spüren, daß immer mehr von Tag zu Tag, je weiter ich in Richtung auf das unwahrscheinliche Ziel vordringe, der Himmel ein neues, selbst den Träumen unbekanntes Licht ausstrahlt, daß die Pflanzen, die Berge, die Flüsse, die wir durchqueren, von einem Wesen erfüllt zu sein scheinen, das anders als das heimatliche ist und daß die Luft unsagbare Vorahnungen erweckt.
Neue Hoffnung wird mich morgen früh weiter noch vorwärts treiben, in Richtung auf jenes unerforschte Gebirge, das die Schatten der Nacht einzuhüllen beginnen. Noch einmal werde ich das Lager abbrechen, während Domenico in entgegengesetzter Richtung verschwinden wird, Träger unnützer Botschaft an die so weit entfernte Heimat.
DIE TöTUNG des drachen
Im Mai 1902 erzählte ein Bauer des Grafen Gerol, ein gewisser Giosue Longo, der oft zur Jagd das Gebirge durchstreifte, daß er im Tal Secca ein großes häßliches Tier gesehen habe, das ein Drache zu sein schien. In Palissano, dem letzten Dorfe des Tales, ging seit Jahrhunderten die Sage, immer noch lebe in gewissen sonnenverbrannten Schluchten eines dieser Ungeheuer. Niemand hatte dies je ernst genommen. Diesmal aber -Longo war ein vernünftiger Mann, seine Erzählung genau und obwohl er sein Abenteuer oft erzählte, variierten die Einzelheiten hierbei nicht - gewann Graf Martino Gerol die Überzeugung, daß etwas Wahres an der Sache sein müsse, und er entschloß sich, sie durch eigenen Augenschein zu untersuchen. Gewiß nicht dachte er an einen Drachen, aber immerhin schien es möglich zu sein, daß in jenen abgelegenen Schluchten irgendeine große Schlange seltener Art lebe.
Der Expedition schlossen sich an der Gouverneur der Provinz Quinto Andronico mit
Weitere Kostenlose Bücher