Sieben Erzaehlungen
Stunde kamen sie endlich an. Das Tal öffnete sich unversehens zu einem weitgeschwungenen Felsenzirkus, dem Burel, einer Art Amphitheater, umgeben von Mauern aus Erde und brüchigen Felsen, von gelbrötlicher Farbe. Gerade in der Mitte, auf dem Gipfel eines kegelförmigen Geröllhaufens, ein schwarzes Loch: die Höhle des Drachen.
„Da ist sie“, sagte Longo. Sie blieben in kurzem Abstand vor ihr stehen, auf einer Kieselterrasse, die sich als bester Beobachtungsstand anbot, etwa zehn Meter oberhalb des
Niveaus der Höhle und fast genau ihr gegenüber. Die Terrasse hatte zudem den Vorteil, von unten her nicht zugänglich zu sein, da eine steil abstürzende Wand sie beschützte. Maria konnte sich dort mit der größten Sicherheit aufhalten.
Man schwieg, man spitzte die Ohren. Man hörte nichts als das unermeßliche Schweigen der Berge, unterbrochen zuweilen durch das Flüstern der Kiesel. Mal rechts, mal links löste sich unerwartet eine Erdzunge, und dünne Bäche Felsgesteins begannen zu rieseln und sich mühevoll auszubreiten. Man hatte den Eindruck einer Landschaft ununterbrochenen Verfalls, gottverlassener Berge, die sich nach und nach auflösten.
„Und wenn heute der Drache nicht herauskommt?“ fragte Quinto Andronico.
„Ich hab die Ziege“, antwortete Gerol. „Du vergißt, daß ich die Ziege habe!“
Man begriff, was er sagen wollte. Das Tier sollte als Köder dienen, um das Ungeheuer aus der Höhle zu locken. Man begann mit den Vorbereitungen: Zwei Jäger erkletterten mühsam eine etwa zwanzig Meter oberhalb des Höhleneinganges gelegene Stelle, von der sie im Notfall Steine hinabschleudern konnten. Ein anderer begab sich zu dem unweit der Höhle gelegenen Kieshügel, um dort die Ziege niederzulegen. Andere stellten sich an den Seiten auf, gut verteidigt hinter großen Felsen mit den Gewehren und den Feldschlangen. Andronico stand unbeweglich, nur sehen wollte er.
Maria schwieg. Jede Unternehmungslust war in ihr erloschen. Wie gern wäre sie gleich nach Hause zurückgekehrt. Aber sie wagte es niemandem zu sagen. Ihre Blicke durchschweiften die Felswände, die alten und die neuen Geröllawinen, die Säulen roter, jeden Augenblick zu stürzen drohender Erde. Was denn gegenüber einer solchen Einsamkeit konnten diese unendlich wenigen, der Gatte, der Graf, die Naturwissenschaftler, die Jäger ausrichten?
Nachdem die tote Ziege vor der Höhle niedergelegt worden war, konnte man nichts anderes tun als warten. Es war etwas nach zehn Uhr, und der Burel stand jetzt völlig im Strahl der Sonne, die ihn mit intensiver Wärme füllte. Hitzewellen strömten von der einen zur anderen Felswand, und um den Gouverneur und seine Gattin vor den Sonnenstrahlen zu schützen, errichteten die Jäger, so gut es ging, eine Art Baldachin aus den Decken der Kutschen, und Maria wurde nicht müde, zu trinken.
„Achtung!“ schrie auf einmal Graf Gerol, der auf einem Felsvorsprung oberhalb des Kieselgerölls stand, in der Hand eine Flinte, an der Seite eine Metallkeule.
Alle hielten zitternd den Atem an, als sie aus dem Schlund der Höhle etwas Lebendiges kommen sahen. „Der Drache, der Drache!“ schrien zwei oder drei Jäger, man wußte nicht, war es ein Schrei der Freude oder des Schreckens. Das Wesen tauchte ins Licht, wie eine Natter bebend und schaukelnd. Hier also war das legendäre Ungeheuer, dessen Stimme allein ein ganzes Dorf erzittern ließ.
„Oh, wie häßlich!“ rief Maria aus, mit deutlicher Erleichterung, denn sie hatte Schlimmeres erwartet.
„Nun komm schon!“ schrie scherzend ein Jäger. Und alle fanden ihre Selbstsicherheit wieder.
„Anscheinend ein kleiner Ceratosaurus!“ sagte Professor Inghirami, dem jene Ruhe des Gemütes zurückgekehrt war, die den Phänomenen der Natur gerecht wird. Nein, das Ungeheuer wirkte tatsächlich nicht erschrek-kend. Es war nicht viel mehr als zwei Meter lang, hatte einen Kopf, der dem eines Krokodiles ähnelte, obschon er kürzer war, und den langen Hals einer Eidechse, die Brust sah wie aufgebläht aus, der Schwanz war kurz und eine Art feuchtweichen Kammes zog sich über den Rücken. Mehr als die bescheidenen Dimensionen waren es jedoch seine mühsamen Bewegungen, die Erdfarbe der pergamentartigen Haut (mit einigen grünlichen Streifen), die völlige Schlaffheit des Körpers, die jede Furcht löschten. Das alles drückte ein unermeßliches Alter aus. Wenn es ein Drache war, so war es ein altersschwacher Drache, fast am Ende des Lebens.
„Da, nimm dies!“
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