Sieben Jahre später
Blödsinn. Gefragt waren Jugend und frisches Fleisch. Auf der Straße merkte sie bereits, dass die Männer sich nicht mehr so oft nach ihr umdrehten. Vor einem Monat hatte sie sich in einem Geschäft in Greenwich durch die Aufmerksamkeit des Verkäufers geschmeichelt gefühlt, eines jungen, charmanten und gut gebauten Burschen, bis sie begriff, dass sein Interesse nicht ihr galt, sondern … Camille.
Dreißig Sekunden …
Es fiel ihr schwer, es sich einzugestehen, aber das Wiedersehen mit Sebastian hatte sie berührt. Er war noch immer genauso unausstehlich, schwerfällig, ungerecht und verbohrt, aber sie war froh, ihn in dieser Situation an ihrer Seite zu wissen.
Vierzig Sekunden …
Als sie noch verheiratet waren, hatte sie sich ihm nie ebenbürtig gefühlt. Sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ihre Liebe nur auf einem Missverständnis beruhte – früher oder später würde Sebastian seinen Irrtum bemerken und sie so sehen, wie sie tatsächlich war –, und hatte in der steten Angst gelebt, verlassen zu werden.
Fünfzig Sekunden …
Ihre Trennung erschien ihr derart unabwendbar, dass sie sie geradezu provoziert hatte, indem sie sich immer wieder mit Liebhabern eingelassen und so zwangsläufig ihre Beziehung zerstört hatte, was ihre größte Sorge bestätigte, ihr jedoch zugleich eine paradoxe Erleichterung verschaffte: Da sie ihn verloren hatte, musste sie nicht mehr fürchten, ihn zu verlieren.
Eine Minute …
Der Countdown lief. Das Leben zerrann ihr zwischen den Fingern. In zwei oder drei Jahren würde Jeremy zum Studium nach Kalifornien gehen. Sie würde allein bleiben. Allein. Allein. Allein. Immer diese panische Angst, verlassen zu werden. Woher rührte diese Wunde? Aus der Kindheit? Aus früherer Zeit? Sie zog es vor, nicht daran zu denken.
Eine Minute zehn Sekunden …
Ein Schauder erfasste sie, und sie spürte ein Zittern in ihrem Unterbauch. Sie brauchte Sauerstoff. Der Refrain des Songs von den Stones erreichte ihr Ohr verzerrt, überlagert von einem … Riff von Jimi Hendrix!
Mein Handy!
Sie tauchte unvermittelt aus dem Wasser auf und griff nach ihrem Telefon. Es war Santos. Seit dem Vortag hatte er ihr zahlreiche Nachrichten hinterlassen, mal wütend, mal verliebt. In der Aufregung der Ereignisse hatte sie es vorgezogen, ihm nicht zu antworten.
Sie zögerte. In letzter Zeit erwies sich Santos als ein Liebhaber, der ihr zunehmend die Luft zum Atmen nahm, er war jedoch auch ein guter Cop. Wenn er eine Spur in Zusammenhang mit Jeremys Verschwinden entdeckt hatte?
»Ja?«, meldete sie sich außer Atem.
»Nikki? Endlich! Seit Stunden versuche ich, dich zu erreichen. Was ist das für ein Spielchen, verdammt noch mal?«
»Ich war beschäftigt, Lorenzo.«
»Was treibst du in Paris?«
»Woher weißt du, wo ich bin?«
»Ich habe bei dir zu Hause vorbeigeschaut. Dort bin ich auf zwei Flugtickets gestoßen.«
»Woher nimmst du dir das Recht, in meiner Wohnung …?«
»Zum Glück war ich es und nicht einer meiner Kollegen«, erwiderte er gereizt. »Ich habe nämlich auch das Kokain im Bad gefunden!«
Kleinlaut geworden, sagte sie lieber nichts. Er trieb sie in die Enge.
»Wach auf, meine Liebe! Am Tatort eines üblen Verbrechens hat man deine Fingerabdrücke und die deines Exmanns gefunden. Du steckst bis zum Hals in der Scheiße.«
»Wir können nichts dafür!«, verteidigte sie sich. »Drake Decker war schon tot, als wir hinkamen. Bei dem anderen war es Notwehr.«
»Aber was hattest du in diesem Rattenloch überhaupt verloren?«
»Ich habe versucht, meinen Sohn zu finden! Hör zu, ich erkläre dir das, sobald es mir möglich ist. Hast du nichts von Jeremy gehört?«
»Nein, aber ich bin der Einzige, der dir noch helfen kann.«
»Wie?«
»Ich kann versuchen, die Ermittlungen zu den Morden bei Decker zu verzögern, allerdings unter der Bedingung, dass du so schnell wie möglich nach New York zurückkommst. Einverstanden, Nikki?«
»Einverstanden, Lorenzo.«
»Und lass dich nicht von Sebastian beeinflussen«, sagte er drohend.
Sie schwieg.
Er bemühte sich um einen besänftigenden Tonfall. »Du … du fehlst mir, Darling. Ich werde alles tun, um dich zu schützen. Ich liebe dich.«
Einen Augenblick lang wartete Santos auf ein »Ich dich auch«, das Nikki jedoch nicht über die Lippen brachte.
Ein Signalton informierte sie über einen gleichzeitig eingehenden Anruf. Sie nutzte ihn, um das Gespräch zu beenden.
»Ich muss aufhören, ein anderer Anruf. Ich melde mich
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