Sieben Jahre später
wandte sich zu dem Mann um, der ihn angesprochen hatte.
»Ja, das ist mein Sohn. Haben Sie ihn gesehen ? « , fragte er hoffnungsvoll.
Sein Gegenüber fiel inmitten der illegalen Straßenhändler aus dem Rahmen: sauberes Hemd, Anzugjacke, korrekter Haarschnitt, abgetragene, aber blitzblanke Schuhe. Trotz seines miserablen Jobs bemühte er sich um ein tadelloses Erscheinungsbild.
»Mein Name ist Youssef«, stellte er sich vor. »Ich bin aus Tunesien . «
»Haben Sie meinen Sohn gesehen ? «
»Ja. Ich glaube, vor zwei Tagen … «
»Wo ? «
Der Tunesier schaute sich misstrauisch um. »Ich kann jetzt nicht reden«, fuhr er fort.
»Bitte! Es ist wichtig.«
Auf Arabisch bedachte Youssef zwei seiner Kollegen, die etwas zu genau zu ihm herschauten, mit einer Flut von Flüchen. »Hören Sie …«, sagte er zögernd. »Warten Sie im Fer à cheval auf mich. Das ist ein kleines Café in der Rue Belhomme, hundert Meter von hier, direkt hinter dem Kaufhaus Tati. Wir treffen uns dort in einer Viertelstunde.«
»Einverstanden! Danke!«
Sebastian glaubte, endlich Hoffnung schöpfen zu können. Er hatte recht gehabt, hartnäckig zu bleiben! Dieses Mal hatte er eine echte Spur.
Er ging über die Straße zum Boulevard Barbès und dann vorbei an dem riesigen Kaufhaus mit dem Logo im rosa-weißen Vichymuster: Tati. Dieses Unternehmen, ein Pionier im harten Discountgeschäft, gab es seit über fünfzig Jahren hier im Viertel. Auf der Jagd nach Schnäppchen suchten die Kunden in den großen Körben, die vor den Schaufenstern standen. Kleider, Hosen, Hemden, Taschen, Wäsche, Pyjamas, Bälle, Spielzeug …
Auf der anderen Straßenseite hatten weitere Schwarzhändler ihre Stände aufgestellt und boten gefälschte Louis-Vuitton-Taschen und nachgemachte Parfüms an.
Sebastian lief über die Rue Bervic weiter zur Rue Belhomme. Barbès war ein quirliges Viertel: viele Menschen, ein hoher Lärmpegel. Selbst verschiedene architektonische Stilrichtungen existierten hier nebeneinander: In einem einzigen Häuserblock gab es Fassaden im haussmannschen Stil, Kalksteingebäude und Sozialbauten.
Endlich stand er vor dem Café, in dem er mit Youssef verabredet war. Es war ein Bistro mit schmalem Fenster, eingezwängt zwischen einem Geschäft mit preiswerter Brautmode und einem afrikanischen Friseur. Die Bar war leer. Ein starker Geruch nach Ingwer, Zimt und gekochtem Gemüse hing in dem Raum.
Sebastian setzte sich an einen Tisch in Fensternähe und bestellte einen Kaffee. Er zögerte, ob er Nikki anrufen sollte. Er hatte große Lust, ihr von seiner Entdeckung zu erzählen, beschloss jedoch, zu warten, bis er mehr wüsste, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Er trank seinen Espresso, blickte auf seine Armbanduhr und begann dann, nervös an den Nägeln zu kauen. Die Wartezeit erschien ihm lang. Am Fenster hing ein kleines Plakat, das die Dienste eines Marabouts, eines moslemischen Heiligen, anbot.
Doktor Jean-Claude
Exorzismus
Unterwerfung unsteter Ehepartner
Endgültige Rückkehr des geliebten Wesens
in den Schoß der Familie
Das wäre doch sehr nützlich , dachte er gerade ironisch, als Youssef das Bistro betrat.
»Ich habe nicht viel Zeit«, informierte ihn der Tunesier und nahm ihm gegenüber Platz.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, antwortete Sebastian und legte das Foto von Jeremy auf den Tisch. »Sind Sie sicher, meinen Sohn gesehen zu haben?«
Youssef betrachtete das Foto aufmerksam.
»Ganz sicher. Das ist der junge Amerikaner, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, der sich als Jeremy vorgestellt hat. Ich habe ihn vorgestern Abend bei Mounir, einem unserer ›Bankiers‹, gesehen.«
»Einem Bankier?«
Youssef trank einen Schluck von dem Kaffee, den er beim Eintreten bestellt hatte.
»Jeden Tag werden am Umschlagplatz Barbès-Rochechouart mehrere Hundert Stangen geschmuggelte Zigaretten verkauft«, erklärte er. »Der Tabakhandel ist genauso strukturiert wie der mit Drogen. Großhändler kaufen ihre Ware bei chinesischen Lieferanten. Morgens bringen sie ihren Bestand vor Ort und verstecken ihn irgendwo: in Mülleimern, Nischen, auf Verkaufsständen, im Kofferraum von Autos, die an strategisch günstigen Stellen geparkt sind. Unsere Aufgabe ist es dann, die Stangen auf der Straße zu verkaufen.«
»Und die ›Bankiers‹?«
»Das sind die Leute, die das Geld einsammeln.«
»Aber was hatte Jeremy bei diesem Mounir zu su-chen?«
»Keine Ahnung, aber er sah nicht aus, als würde er gegen seinen Willen dort
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